Sport & Gesundheit

Der Visionär

Wir müssen Medizin neu denken und das Gesundheitssystem neu strukturieren, indem wir es vom Patienten aus planen und die am Patienten Tätigen zufriedenstellen. Auf der einen Seite Angst, auf der anderen Seite Unzufriedenheit sind als Basis für eine Patient-Behandler-Beziehung gescheitert.


Prof. Dr. Jochen A. Werner, Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender der Universitätsmedizin Essen, fordert ein Gesundheitssystem, in dem die Digitalisierung die für eine angemessene Patientenversorgung notwendigen menschlichen Qualitäten wie Empathie, Hingabe und Respekt dominieren lässt.

 

Die Metropolregion Ruhr befindet sich mitten im größten Strukturwandel ihrer Geschichte. Es geht darum, eine seit Jahrhunderten von der Schwerindustrie geprägte Region innerhalb vergleichsweise kurzer Zeit in eine moderne, kreative und digitale Gesellschaft mit zukunftsfesten ökonomischen Strukturen zu überführen. Und dies alles unter dem Wettbewerbsdruck der Weltmärkte, im Ringen um die besten Arbeitskräfte, bei angespannter Finanzlage und ohne soziale Verwerfungen. Fürwahr eine Herkulesaufgabe, die nur in einer gemeinsamen, solidarischen Kraftanstrengung gelingen kann – sicherlich eine der Stärken der Region.

Jeder Umbruch benötigt Leuchttürme und Vorbilder, an denen man sich orientieren kann. Und Branchen, die das Zugpferd dieses Transformationsprozesses sein können. Die Gesundheitswirtschaft, in Essen mittlerweile der größte Arbeitgeber, kann diese Rolle zweifellos einnehmen. Und dies, obwohl oder gerade weil sich auch die Medizin im größten Wandel ihrer Geschichte befindet. Durch die Digitalisierung ergeben sich neue, großartige Chancen und Quantensprünge bei Diagnose und Therapie, auch durch Einsatz von künstlicher Intelligenz. Viele substanzielle Fortschritte entstehen in der Medizin mittlerweile nicht mehr aus einem einzelnen Fachgebiet heraus, sondern in der Schnittmenge zwischen den Disziplinen, immer häufiger auch in den Schnittmengen zwischen medizinischer und nichtmedizinischer Expertise, etwa im Austausch mit Datenwissenschaftlern. Das klassische Bild der Medizin verändert sich dramatisch. Gleichzeitig bedeutet der demografische Wandel mit einer immer älter werdenden Bevölkerung eine große finanzielle Herausforderung für das Gesundheitssystem, beispielsweise auch für den Bedarf und die Verfügbarkeit an qualifiziertem Pflegepersonal.

Der größte Paradigmenwechsel aber betrifft das Selbstverständnis der Medizin, das sich grundlegend und tiefgreifend ändern wird. Heute befassen wir uns auf Grundlage der medizinischen Tradition mit den Kranken statt mit den Gesunden. Das aktuelle Bild des „Krankenhauses“, wie es der deutsche Name so treffend wiedergibt, ist geprägt von der Aufgabe als Werkstatt und Reparaturbetrieb des menschlichen Körpers. Rund 80 Prozent der gesamten Gesundheitsversorgung beruhen nach meiner Einschätzung auf dieser Funktion. Dies geschieht natürlich auf einem ungleich höheren Niveau und mit deutlich verbesserten Erfolgsaussichten als in der Vergangenheit, denken wir an komplexe Krankheitsbilder, wie etwa in der Onkologie. Ich glaube aber, dass die Medizin der Zukunft dieses Verhältnis zunächst in der westlichen Welt umkehren wird: Ein dann vergleichsweise geringerer Anteil der medizinischen Leistungserbringung wird auf der unmittelbaren Behandlung von akuten Krankheitsbildern beruhen. In ein, spätestens zwei Jahrzehnten wird ein Großteil von Erkrankungen medikamentös heilbar oder in chronische Zustände überführbar sein. Ein relevanter Teil der zukünftigen medizinischen Versorgung wird sich hingegen um Prävention, Vorsorge und das Verhindern von Krankheiten drehen müssen.

Lebensbegleitung, das ist die Maxime und die Definition für die Medizin von morgen. Beginnend bei der Familienplanung, endend bei der Trauerarbeit um den Verstorbenen, diese Spanne gehört zur umfassenden Betreuung der Menschen, auch um Krankheiten erst gar nicht entstehen zu lassen, deren Ausbruch zu verzögern oder die Krankheit zumindest so früh wie möglich zu erkennen. Das Instrumentarium dazu ist bereits vorhanden und wird ständig ausgebaut. Allein die aktuellen Möglichkeiten der Präzisionsprävention und der personalisierten Medizin auf Grundlage der individuellen genetischen Disposition sind bislang erst in Ansätzen genutzt und werden künftig die Krankheitsrisiken deutlich reduzieren. Hinzu kommen die Förderung und die Motivation für eine gesunde und verantwortliche Lebensweise. Zahlreiche Krankheiten sind durch die Lebensführung bedingt und lassen sich weitgehend vermeiden, denken wir nur an Diabetes mellitus Typ 2 oder eine Reihe der Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Das ist zwar heute schon so, allerdings werden künftig allein aus Kostengründen die Patientin und der Patient ungleich stärker als bislang daran mitwirken (müssen), ihren Beitrag zur Gesunderhaltung zu leisten. Die Übernahme von Selbstverantwortung vom Patienten ist obligat.

Im Gegenzug stehen den Menschen dafür Anwendungen außerhalb der klassischen medizinischen Kernversorgung zur Verfügung, die für das Ziel der Gesunderhaltung elementar sind. Eine wesentliche Rolle werden dabei Sportstudios und andere Fitnesseinrichtungen spielen, aber auch Smartphones, Smartwatches oder andere Wearables, die Informationen wie Puls, Blutdruck, Sauerstoffsättigung und andere Gesundheitsdaten zum Beispiel an den Hausarzt übertragen. Auf künstlicher Intelligenz beruhende Systeme analysieren permanent diese Informationen, setzen sie in Beziehung zu persönlichen Parametern, aber auch zu Vergleichsdaten der jeweiligen Altersgruppe und schlagen bei Abweichungen Alarm. So können beispielsweise kardiologische Probleme sehr frühzeitig erkannt und behandelt werden.

Die digitale Zukunftsmedizin eröffnet neue Möglichkeiten, aber sie fordert vom Patienten auch mehr; sie entlässt ihn aus seiner heute noch überwiegend passiven Rolle. Ohne aktive Mitwirkung der Patienten kann Zukunftsmedizin nicht gelingen. Dabei denke ich zum einen an die Erfordernisse des Datenschutzes: Es sollte möglich sein, einen zeitgemäßen Schutz für medizinische Daten sicherzustellen, der Patientendaten pseudonymisiert und ausschließlich befugten Akteuren für Diagnose und Therapie nutzbar macht, aber gleichzeitig den unkontrollierten kommerziellen Handel unterbindet. Der Datenschutz der Zukunft muss es erlauben, mit Zustimmung der Patienten aus medizinischen Daten zu lernen und personenbezogene Daten zielgerichtet zu erheben. Nur so können Menschen individuell lebenslang präventiv begleitet werden, können Diagnosen frühzeitig gestellt, Medikamente verabreicht oder Behandlungsverfahren identifiziert werden, die zur genetischen Disposition passen. Daraus resultiert eine prädiktive Prävention.

 

Prof. Dr. Jochen A. Werner ist Vordenker und Verfechter des Smart Hospitals

 

Zum anderen denke ich an eine elementare Grundvoraussetzung für eine moderne Gesellschaft: Bildung. Nur informierte, gebildete Patientinnen und Patienten werden die großen Chancen der digitalisierten Medizin einschließlich des erforderlichen Eigenanteils auch tatsächlich wahrnehmen können. Und nur gebildete Patientinnen und Patienten werden von der geänderten Rolle des Arztes profitieren, der künftig weniger als Halbgott in Weiß, sondern eher als Lebenskonstante in seiner Rolle als Ratgeber und Partner auftritt. In wenigen Jahren wird es auch in der Breite möglich sein, dass sich Patient und Arzt als Avatare im virtuellen Raum treffen und aktuelle Gesundheitsthemen besprechen. Dazu braucht es Patientinnen und Patienten, die auf Augenhöhe mit ihren Diagnostikern, Therapeuten und Coaches kommunizieren.

Auf Seiten der medizinischen Leistungserbringer werden sich neue Arbeitsmodelle etablieren, etwa aus dem mobilen Office. Nichts spricht dagegen, dass etwa Ärzte der diagnostischen Fächer, aber auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Verwaltungsbereich zumindest einen Teil ihrer Arbeit nicht in der Klinik, sondern via Computer von anderen Orten oder zu Hause erbringen. Corona hat diesbezüglich einen gewaltigen Schub in Richtung einer modernen Arbeitswelt ausgelöst, wie sie in anderen Branchen oder auch anderen Ländern schon lange üblich ist. Sport und Fitness, aktive Mitwirkung und Bildung werden aber nicht nur für die Patienten, sondern auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter immer wichtiger. Nur gut ausgebildete Beschäftigte sind fit für die Herausforderungen in der digitalen Arbeitswelt. Und weil der erforderliche digitale Wandel nur vorangetrieben werden kann mithilfe von Mitarbeitern, die über das notwendige Wissen zum Umgang mit neuen Systemen verfügen, braucht es adäquate Bildungsangebote und Weiterbildungen im Sinne eines lebenslangen Lernens. Neue Berufsbilder werden entstehen, die den notwendigen Wandel beschleunigen. Auch der Pflegeberuf wird insbesondere für jüngere Menschen künftig wieder als deutlich attraktiver wahrgenommen, weil er im Gegensatz zu anderen Branchen nicht disruptiv ist, sondern zukunftssicher und krisensicher, im Gegensatz zu vielen anderen Berufsbildern. Die Charakteristik der Pflege bleibt im Kern erhalten und schafft damit bei der Lebensplanung ein wichtiges Stück Sicherheit, was andere Berufe nicht mehr bieten werden können. Die Zukunftsmedizin besteht aus einer Vielzahl von Chancen und Perspektiven, aus konkreten Veränderungen und Herausforderungen. Sie muss in ein stimmiges, in sich geschlossenes und stringentes Konzept überführt werden, um mehr zu sein als die Summe ihrer Einzelteile. Ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg dorthin ist die Weiterentwicklung des Smart Hospitals, wie es in der Universitätsmedizin Essen seit 2015 Stück für Stück umgesetzt wird. Das Krankenhaus der Zukunft fungiert als zentrale Datenschnittstelle, als barrierefreie Plattform im Kern des Gesundheitssystems, bündelt die Aktivitäten und kooperiert eng mit allen Akteuren im medizinischen Sektor, aber eben zunehmend auch mit medizinferneren Einrichtungen wie etwa Sportstudios und Ernährungszentren – aus dem Krankenhaus wird also gewissermaßen das Lebenshaus, das Prävention, Diagnostik, Therapie und Rehabilitation in engster Abstimmung mit allen Stakeholdern des Gesundheitswesens koordiniert und je nach Verortung in Deutschland zu unterschiedlichen Anteilen auch praktiziert.

Das Gesundheitssystem von morgen ist nicht nur besser, effizienter und vor allem auf Prävention ausgerichtet – es ist wesentlich menschlicher und empathischer, es verkörpert wieder Hingabe und Zuwendung den sich anvertrauenden Personen gegenüber, essentielle Eigenschaften, die über viele Jahrzehnte auf Kosten vor allem ökonomischer Aspekte und fehlender Schulung in Führungsverhalten und Teamarbeit verloren gingen. Wir müssen den Beschäftigten über eine intensivierte Digitalisierung mehr Freiheiten ermöglichen, um die sich ihnen anvertrauten Menschen zu behandeln und zu pflegen. Hierzu gehört auch der Einsatz der elektronischen Patientenakte zur Erleichterung der Dokumentation sowie die mittelfristige Unterstützung durch Robotersysteme bei schweren körperlichen Tätigkeiten. Die Klinik der Zukunft wird sich von innen heraus wandeln, mit einem anderen Selbstverständnis und einer anderen Priorität: Als digitale Schaltstelle im Gesundheitssystem Menschen mit starker Fürsorge und Hinwendung gesund zu erhalten. Wenn dies gelingt, und die Universitätsmedizin Essen ist dabei auf einem guten Weg, wird diese Erfolgsgeschichte auch einen spürbaren Abstrahleffekt und Vorbildcharakter für den Strukturwandel in der Metropolregion Ruhr bedeuten.

Artikel von www.top-magazin.de/ruhr