Ruhrrevier

Die Alte Synagoge

Die alte Synagoge in Essen hat eine neue junge Leiterin ein Ort an dem es ganz viel zu entdecken gibt – Architektur, Kultur, Gedenkstätte, Museum und Konzerte


Die Alte Synagoge in Essen – sie ist eine der größten frei stehenden Synagogen Europas und hat die Zeiten der Vernichtungen überstanden. Heute ist sie Gedenk-, Kulturstätte und Museum.

 

Dr. Diana Matut ist das neue Gesicht an der Spitze der Alten Synagoge in Essen. Im Mai 2023 hat der Rat der Stadt die Wissenschaftlerin für diese Aufgabe berufen. Nun hat sie die ersten Monate in dieser Aufgabe erlebt und auch als Frau, die praktisch schon überall auf der Welt im Einsatz war, Eindrücke ihrer neuen Heimat, dem Ruhrgebiet und besonders Essen gesammelt. Mit TOP RUHR blickt sie auf ihre persönliche Geschichte, ihre wissenschaftliche Karriere, die Musik, ihre Ideen und ihre Sicht auf die altehrwürdige jüdische Kultureinrichtung in Essen.

 

Frau Dr. Matut, Menschen sind ja immer neugierig – erzählen Sie uns ein wenig darüber, wie alt sie sind, wo sie herkommen und wie sie aufgewachsen sind?

Das verlangt nach einer Kurzfassung. Ich hatte das große Glück, mit dem Park in Bad Muskau als meinem Abenteuerspielplatz groß zu werden, umsorgt von tatkräftigen, sehr herzlichen Menschen – vor allem aber von den Frauen der Generation, die den Krieg erlebt hatten, stets arbeiteten und nebenbei auch noch der soziale Kitt waren, der alles zusammenhielt. Auf eigene Weise zäh, aber nicht bitter. Die Lust am sonntäglichen Sektfrühstück, Eierlikör an Gewitterabenden ohne Strom, Tanztee und den grundsätzlich zu langen Wanderungen schien mir als Kind ungebrochen.

Der schwierige Balanceakt meiner Familie im Kontext der DDR ist mir in all seinen Dimensionen erst viel später aufgegangen. Danach kam Erfurt, eine Stadt, die mir Lust auf Geschichte machte und mich musikalisch voranbrachte bis hin zum Rundfunkjugendchor in Wernigerode.

Alles in allem war es eine sehr viel stillere Zeit, in der Raum war für Gedanken, Bücher, Natur und Musik – was heute oft mühsam und durch digital detox wieder erlernt werden muss …
Als ich ungefähr 13 Jahre alt war, kam die Wende. Für mich der ideale Zeitpunkt, denn so konnte ich das Abitur schon unter den neuen Bedingungen ablegen, war für die Universität qualifiziert – und begann das Reisen. Ich habe eigentlich bis heute ständig Fernweh – etwas, das ich mit vielen DDR-Kindern meiner Generation zu teilen scheine. Eine der konstantesten Fragen der letzten zwei Jahrzehnte an mich war jedenfalls: „Wo bist du denn jetzt schon wieder?“

Immer wieder findet sich der Hinweis, dass Sie ursprünglich Musikerin werden wollten. Woher resultiert diese Liebe zur Musik – wurde sie Ihnen in die Wiege gelegt, im Elternhaus oder in der Schule geboren?

Ich bin ein typisches Kind aus bürgerlichem Haus – bei uns haben alle Instrumente gespielt und gesungen. Allerdings waren es vor allem die wunderbaren Frauen der Familie, die als professionelle Musikerinnen arbeiteten.

Schon meine Urgroßmutter war Pianistin und hat in der Weltwirtschaftskrise mehr damit verdient, zu unterrichten und zu konzertieren, als ihr Mann, der Ingenieur war. Die Schwester meiner Großmutter war Organistin und spielte in Görlitz. So zog sich das durch die Generationen, aber es war vor allem meine Großmutter, die mir die Liebe zur Musik mitgegeben hat. Es lag bei uns tatsächlich schlicht „in der Luft“.

Sie sind bis heute in einer Weise dieser Idee treu geblieben, nun vor allen Din-gen auf der wissenschaftlichen Seite. Begann das schon im Studium? Für Laien erklärt: Was genau haben Sie studiert und an welche Universitäten hat Sie dies geführt?

Auch das verlangt nach einer Kurzfassung. Ich habe mein Studium der Judaistik in Halle an der Saale begonnen. Unsere Seminare waren in der Regel mit zwei bis maximal zwanzig Studierenden besetzt – ob man wollte oder nicht, man konnte sich nicht wegducken. Andererseits lasen und übersetzten wir Texte im Sommer auf dem Balkon des Instituts in folgender Formation: ein bis zwei Profs (einer musste unterrichten, einer wollte dabei sein), zwei Studierende, Kaffee – und die Herren rauchten tatsächlich noch Zigarren. Deutschland hatte aber in dieser Zeit, den 90ern, noch eine starke Universitätskultur der Granden und steilen Hierarchien, die Ausbildung war sprachzentriert und es gab nur wenig (jüdische) Diversität. Wissenschaftler*innen saßen oft in der Karrierefalle: 40 Jahre alt, habilitiert und wenn es nicht die Professur wurde, dann blieb manchmal nur der Taxischein.

Für mich kamen die wirklich spannenden Themen und Ansätze ohnehin aus dem angloamerikanischen Raum, die Vielfalt jüdischen Lebens, die ich suchte, gab es nur dort. 1998 erhielt ich ein Stipendium der Universität Oxford, sodass ich meinen ersten Abschluss in Hebrew and Jewish Studies ablegen konnte, gefolgt 2001 von einem MA in jiddischer Sprache und jüdischer Musik an der School for Oriental and African Studies in London. Danach ging es ans Jewish Theological Seminary nach New York, was die Frage mit sich brachte: für die Dissertation in den USA bleiben, wohin einer meiner Oxforder Lehrer gegangen war, oder das Angebot meines Doktorvaters annehmen, in Halle mit einer Stelle zu promovieren. Ich habe mich dann für Letzteres entschieden.

Der angloamerikanische Raum und die Internationalität der Universitäten haben mein Denken grundsätzlich geprägt. Ich bin dort wissenschaftlich sozialisiert worden mit Konzepten von Kulturen und Identitäten im Plural, Minderheitenperspektiven und einem Verständnis für Dialektik, das ich aus Deutschland nicht kannte: wirkliche Lust an einer Debatte zu haben, aber nicht verfeindet aus einem Diskurs zu gehen. In der Sache streitbar zu sein, doch danach im Pub zusammensitzen können – ein rares Gut.

Und jetzt nach Orten wie Oxford oder New York also Essen. Was hat Sie an der Aufgabe mit dem offiziellen Titel Institutsleitung der Alten Synagoge / Haus der jüdischen Kultur gereizt?

Ich habe immer an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Kultur und Vermittlung gearbeitet, in den letzten zwölf Jahren besonders durch große jüdische Musikprojekte im Kontext des Yiddish Summer Weimar, die Ausrichtung der jüdischen Kulturtage für das gesamte Land Sachsen-Anhalt, die jahrelange Zusammenarbeit mit der Alten Synagoge Erfurt etc. In der Wissenschaft war ich andererseits an einem Punkt, an dem Veränderung nötig wurde. Die Alte Synagoge schien mir eine Institution, die Raum für alles lässt – kreative Prozesse und Projekte, museale Gestaltung, Vermittlung, wissenschaftliche Recherche, aber auch: Kontakt zu den Menschen der Stadt. Gerade bei allem rund um das Thema jüdische Kulturen klafft eine enorme Lücke zwischen den Realitäten jüdischen Lebens weltweit und dem, was in der breiteren Wahrnehmung ankommt.

Nun sind Sie also seit einiger Zeit hier im Amt, wie sind Sie empfangen worden, wie sind Ihre ersten Erfahrungen hier in Essen?

Auf der persönlichen Ebene ist einer meiner wichtigsten Eindrücke, dass es gelebte weibliche Solidarität und insgesamt große Unterstützung for the newbie gibt. Ich bin es gewöhnt, anzuklopfen und erlebe, dass hier angeklopft wird.

Andererseits fand kurz nach meinem Dienstantritt der Angriff der Hamas auf Israel statt. Was die Debatten um dieses Ereignis im Großen bestimmt, findet natürlich auch im Lokalkosmos Essen seinen Widerhall. Das Thema fordert die Stadtgesellschaft und uns mit unserer Arbeit in der Alten Synagoge enorm heraus.

Was macht aus Ihrer Sicht die Alte Synagoge besonders?

Zuerst einmal natürlich die Architektur. Dass eine der größten frei stehenden Synagogen Europas in Essen steht und die Zeiten der Vernichtungen überstanden hat, ist doch etwas Besonderes.
Dann aber auch der Umstand, dass es ein „Mehrspartenhaus“ ist: Museum, Gedenkstätte, Kultureinrichtung, Konzert-, Bildungs- und Vermittlungsort – ein wahres Panoptikum, dass jedem und jeder etwas bietet.

Worauf können sich die Menschen freuen, wenn sie die Alte Synagoge besuchen? Was empfehlen Sie ganz besonders?

Der große Innenraum der Alten Synagoge ist mit seiner eigenen Akustik auch ein ganz besonderer Ort für Konzerte

In jedem Fall sollte man dort einmal ein Konzert gehört haben. Die Akustik ist sehr eigen, aber wenn ein Ensemble gut darauf eingeht, wird es schlicht zu einem spektakulären Hörerlebnis.

Wie erleben Sie selbst ihre neue Heimat, die Stadt Essen, das Ruhrgebiet, die Stimmung hier und die Menschen?

Zum einen finde ich es interessant, dass sich viele Bilder aus meiner alten Heimat, der Lausitz, und der Region hier gleichen. Beide durchliefen/-laufen einen enormen Strukturwandel, der mit großen sozialen Verwerfungen einhergeht. Eine gewisse pragmatische nononsense Haltung und Direktheit im Umgang begegnen mir auch hier immer wieder.

Ansonsten herrscht viel Bewegung, viel Energie, viel drive und Essen wird langfristig sicher sehr davon profitieren, eine so junge, migrantische Gesellschaft zu sein. Migration fördert Innovation und wirtschaftliches Wachstum – der Unterschied zu anderen Regionen, die keine solchen menschlichen „Ressourcen“ haben wie das Ruhrgebiet, ist meiner Meinung nach jetzt schon spürbar.

Welche Pläne und Wünsche haben Sie für die Zukunft?

Ganz naheliegend hoffe ich, dass wir die Alte Synagoge zu einem wirklichen Hub für jüdische Kultur ausbauen können und mit neuen Formaten auch diejenigen erreichen, die sonst nicht den Weg zu uns finden würden.

Privat wäre mein Wunsch, dass irgendwann wieder eine Reise mit der transmongolischen Eisenbahn möglich sein wird. Bepackt mit Büchern und hoffentlich in guter Gesellschaft würde ich mich gern auf die Fahrt begeben. Lange und weit.

 

Artikel von www.top-magazin.de/ruhr