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Impfung im Land der Dichter und Denker

Eine Betrachtung für das TOP MAGAZIN RUHR von Prof. Dr. Jochen A. Werner Ärztlicher Direktor und Vorstandvorsitzender der Universitätsmedizin Essen


 

 

Deutschland Anfang 2021 – ein Land in ambivalenter Stimmung. Das Corona-Virus hat uns fest im Griff. Das exponentielle Wachstum der Infektionen wurde im Dezember abgebremst, gleichzeitig ist es aber nicht gelungen, die Fallzahlen zu reduzieren, sodass die Anzahl von Neuinfektionen, ganz besonders aber die Anzahl der Verstorbenen, zu hoch ist, inakzeptabel hoch. Daher war es auch vollkommen richtig, wiederum in den verschärften Lockdown zu gehen und auch die – wahrscheinlich initial zu leichtfertig – in Aussicht gestellten Lockerungen über die Feiertage einzuschränken. Das Virus kennt weder besinnliche Weihnachtszeit noch launige Silvesterfeiern. Im Gegenteil: Es kann dem Virus nichts besseres passieren, als dass viele potenzielle Wirte in geschlossenen Räumen und womöglich unter Alkoholeinfluss eng zusammensitzen, miteinander reden und singen. Der Abstand sinkt mit jedem Glas. Ohne ein Spielverderber zu sein: Wir alle müssen aus Verantwortung für uns selbst, für unsere Familien aber gleichermaßen für die gesamte Solidargemeinschaft, also für unsere Mitmenschen, Verantwortung zeigen. Und das bedeutet ganz konkret, dass wir zumindest noch über die kalten Monate persönliche Kontakte weitestgehend meiden müssen. Diese Verantwortung kann letztlich politisch nur bedingt angeordnet werden.

 

Jeder Einzelne von uns muss sie aus freien Stücken übernehmen.

Als Ärztlicher Direktor der Universitätsmedizin Essen, Coronazentrum in der Metropole Ruhr, sehe ich jeden Tag die Konsequenz der aktuellen Entwicklung. Ich sehe ärztliches und pflegerisches Personal, das seit vielen Wochen an der persönlichen Belastungsgrenze und darüber hinaus arbeitet und mehr und mehr ausgezehrt wird. Ich sehe eine teilweise erschreckend hohe Anzahl von Menschen, die bei uns seit Wochen jeden Tag in Zusammenhang mit COVID-19 versterben. Und ich sehe, dass trotz unseres gut funktionierenden flexiblen Systems und einer hervorragenden internen Kooperation letztlich eine Zunahme der Fallzahlen bei COVID-19 immer auch eine Einschränkung der Regelversorgung all der nicht an CO-VID-19, sondern an anderen Erkrankungen leidenden Menschen bedeutet. Über die non-COVID-Patienten, wie wir sie nennen, wird viel zu wenig gesprochen, obgleich sie ja schließlich die allergrößte Gruppe aller krankenhauspflichtigen Patienten darstellen und jeder Einzelne sein manchmal sehr schweres Schicksal zu tragen hat. Ich sehe meine vordringliche Aufgabe darin, sicherzustellen, dass die sich uns anvertrauenden schwerkranken Patienten bestens versorgt werden, ganz gleich, ob Erkrankung ihre Ursache in einer Herzerkrankung, einem Darmkrebs oder eben in COVID-19 hat: All diese Patienten verdienen unsere volle Aufmerksamkeit. Das jedoch wird zunehmend schwieriger, denn letztlich greifen wir als Universitätsmedizin auf die gleichen, limitierten Ressourcen in Bezug auf Betten, technische Geräte und vor allem Personal zurück. Auch das beste Konzept kann Engpässe nicht verhindern.

 

Deutsche Politik lernt Pandemie … und die EU?

Es ist in einer solchen Situation immer einfach, die Politik ob der mangelnden Durchschlagskraft der Maßnahmen, fehlender Weitsicht oder der schmerzhaften Einschränkungen zu kritisieren. Dem möchte ich mich explizit nicht anschließen, darf man nach wie vor nicht vergessen, dass wir uns in einer historischen Ausnahmesituation befinden und mit kurzfristig nicht veränderbaren strukturellen Besonderheiten unseres Landes umgehen müssen. Noch niemals in der Geschichte der Medizin war die Menschheit mit einer derart massiven, weltweiten Pandemie konfrontiert, der wir zum einen ohne jede Erfahrungswerte begegnen müssen und die zum anderen hinsichtlich jedweder Maßnahme von den Medien im Live-Modus beobachtet, kommentiert und kritisiert wurde, unter medienwirksamer Einbeziehung sich widersprechender Wissenschaftler. Wer konnte beispielsweise vorab schon sagen, ob und in welchem Maße die Anfang November in Kraft getretenen Lockdown-light-Maßnahmen greifen würden, um das Virus tatsächlich nachhaltig zurückzudrängen? Dabei geht es immer auch um die Abwägung zwischen gesundheitlichen, soziologischen und ökonomischen Folgen. Natürlich gibt es inzwischen viele Fragen zu ausgeführten oder eben zu unterlassenen Maßnahmen, die sicherlich noch aufgearbeitet werden müssen. Was wir aber nicht tun sollten, ist die Ausgangslage Anfang 2020 nicht zu berücksichtigen. Beispielsweise war der Digitalisierungsgrad im Gesundheitswesen wie auch im Schulwesen absolut unzureichend, was wir seit Jahren wussten aber tolerierten, letztlich wohl auch aus dem Gefühl einer gewissen Überheblichkeit heraus, „es geht doch …“. Die Rolle des Datenschutzes wurde und wird in Deutschland wie unantastbar vor uns hergetragen. In der Pandemie allerdings geht es ganz wesentlich um Gesundheitsschutz, und Gesundheitsschutz steht sicher über Datenschutz, das wird jeder relevant Kranke unterschreiben.

 

Deutsche Wissenschaft an der Welt-Spitze der Impfung

Jens Spahn hat sich bereits zu Beginn der Pandemie zu möglichen Fehlentscheidungen geäußert: Wir werden uns später auch vieles verzeihen müssen. Dem Bundesgesundheitsminister war schon damals in weiser Voraussicht klar, dass in den kommenden Monaten ohne jeden Erfahrungshintergrund, ohne genaue Kenntnis des Virus, unter Zeitdruck und beeinflusst durch die Interessen vieler Gruppierungen tiefgreifende Entscheidungen getroffen werden mussten und müssen. Es war mit Realismus bereits absehbar, dass nicht alle politischen Entscheidungen richtig sein können. Was zudem einen Beigeschmack behält und behalten wird, ist der unserer Bundesrepublik innewohnende Föderalismus, der eine Gleichschaltung durch bundeslandeigene Aspekte auf den Kopf stellen kann und gestellt hat. Wirksame Pandemiebekämpfung hingegen erfordert ein entschlossenes System, deren oberste Ziele vom Bund vorzugeben sind. Diese müssen genannt, überprüft und erfolgsbezogen hinterfragt werden. Gleiches gilt für die fehlende Gemeinsamkeit der EU-Staaten, die es nicht geschafft haben, eine abgestimmte Strategie zur Bekämpfung der Pandemie zu formulieren und umzusetzen. Diese von Corona aufgebrachte immense Chance wurde bisher nicht nur nicht genutzt, sie ist wohl vorerst verstrichen. Es hätte sich mit den Weihnachtstagen angeboten, einen generellen EU-Reset mit nachfolgendem Lock-down für drei oder vier Wochen auszuführen. Die Realität aber war und ist eine andere. Ist ein Staat nicht so stark betroffen, fehlt die Bereitschaft zur Gemeinsamkeit innerhalb der EU, die erst wieder mit zunehmender Infektionszahl steigt. Doch dann fehlt anderen Staaten der Gemeinsinn zur ernsthaften Krisenbewältigung. Schade! Aber auch wir sind nicht frei von diesem Verhalten. Die BILD titelte kürzlich zur Rolle Deutschlands in der Pandemie „Vom beneideten Vorbild zum Sorgenkind Europas“. Aktuell beginnt gerade der nächste Akt, mit Impfung überschrieben. Wir werden sehen, ob und welche Rolle die EU dabei einnimmt, außer der Zulassung und Bestellung des Impfstoffs.

Jetzt tritt die Pandemie in ihre zweite Phase. Wir haben nunmehr die Chance, nicht nur passiv durch diverse Schutzmaßnahmen, sondern zusätzlich auch aktiv durch Impfung dem Virus zu begegnen. Man kann es gar nicht oft genug betonen: Dass wir nach knapp einem Jahr diese Option besitzen, ist eine fantastische Leistung der Forschung und der Pharma-Industrie und ganz besonders ein enormer Erfolg der deutschen Wissenschaft. Vier Persönlichkeiten sollen dabei besondere Erwähnung finden. So war die von Prof. Dr. Christian Drosten, Charité Berlin, geleitete Forschergruppe maßgeblich an der Entwicklung des weltweit ersten Diagnostiktests für das erstmals im Dezember 2019 aufgetretene Coronavirus SARS-CoV-2 beteiligt, der Mitte Januar 2020 frei zur Verfügung gestellt wurde. Das sequenzierte Genom wurde dabei aus in Deutschland genommenen Proben gewonnen. Dr. Ingmar Hoerr, deutscher Biologe und einer der Gründer von CureVac, entdeckte bei seinen Untersuchungen zur Promotionsarbeit, dass eine Stabilisierung von Ribonukleinsäure (RNA) möglich ist. Diese Entdeckung war eine wesentliche Grundlage für die Entwicklung von Impfstoffen und Immuntherapien und damit auch für die mRNA-Impfung. Diese als erste in die weltweite Anwendung zu bringen, gelang zwei weitere Forschern aus Deutschland. Prof. Dr. Ugur Sahin ist seit 2006 Professor für experimentelle Onkologie der Universität Mainz und seit 2008 mit seiner Ehefrau Priv.-Doz. Dr. Özlem Türeci Gründer und Vorstandsvorsitzender des Unternehmens Biontech.

Diese und eine ganze Reihe anderer Persönlichkeiten sind der wirklich große Wert in Deutschland, anzusiedeln in der Weltspitze. Darauf müssen wir viel stärker fokussieren, nachdem die Digitalisierung in Deutschland sträflich und nicht mehr aufholbar vernachlässigt wurde.

Die zwischenzeitlich eingetretene Digitalisierungswüste Deutschland bewirkt im Umkehrschluss leider auch, dass talentierte Nachwuchskräfte unser Land verlassen. Genau diesen Nachwuchs allerdings müssen wir mit allen Kräften fördern und bei uns halten. Dabei dürfen wir unsere Wurzeln nicht vergessen, als Volk der Dichter und Denker, eine Verknüpfung, die sich durch das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen hervorragend abgebildet findet. Sehen Sie mir bitte diesen kurzen gedanklichen Ausflug nach, aber genau solche Überlegungen beschleunigt Corona, das uns in mancher Hinsicht aus der überschwänglichen Selbstüberschätzung gerissen hat. Und schon steht die nächste gewaltige Aufgabe vor uns. Wir werden uns daran messen lassen müssen, wie wir eine der größten Herausforderungen umgesetzt bekommen: Die Impfung im Vergleich der Bundesländer untereinander und Deutschland im Vergleich mit anderen Staaten, innerhalb und außerhalb der EU.

 

Impfstoffe – mRNA, Vektor oder rekombinant?

In Kürze werden wir über verschiedene Impfstoffe verfügen, die getreu der bestehenden Regularien und Bestimmungen getestet wurden. Zum besseren Verständnis um die aktuell immer wieder auftretenden Fragen zu Impfstoffen, werden deren wesentliche Gruppen nachfolgend zusammengefasst. Begonnen werden soll mit den mRNA-Impfstoffen. Der erste von der European Medicines Agency (EMA), der Europäischen Arzneimittel-Agentur, zugelassene Impfstoff von Biontec und dem US-amerikanischen Unternehmen Pfizer war ab dem 21.12.2020 einsetzbar. Der zweite Impfstoff der US-amerikanischen Firma Moderna ist nach der Zulassung durch die EMA im Januar 2021 verfügbar. Beide Impfstoffe verwenden Messenger RNA (mRNA) als Botenstoff, um gezielt ein bestimmtes Protein vom Körper selbst produzieren zu lassen. Die mRNA muss für diesen Zweck speziell verpackt werden, z. B. in Lipid-Nanopartikel, weil die mRNA ansonsten sehr schnell im menschlichen Körper abgebaut würde. Mit dieser Schutzhülle kommt die mRNA in die Zellen, wo sie dann ins Protein übersetzt wird. Nun gibt es seit Monaten immer wieder vorgetragene Sorgen um die Sicherheit der mRNA-Impfstoffe, vor allem dahingehend, ob sie bei den Geimpften genetische Veränderungen verursachen, die zum Beispiel Krebs oder andere schwerwiegende Krankheiten auslösen können. Die in diesem Gebiet kundigen Wissenschaftler verweisen im Konsens darauf, dass mRNA ein sehr sicherer Impfstoff ist, da die injizierte mRNA nach deren Übersetzung in das Oberflächenprotein rasch wieder abgebaut wird und auch später keine Folgen haben kann. Der mRNA-Impfstoff greift das Genom des Menschen nicht an. Es wird keine DNA gebildet. Späte Nebenwirkungen sind deshalb extrem unwahrscheinlich bis ausgeschlossen. Beim Impfstoff von Biontech und Pfizer sind wenige akute Nebenwirkungen bekannt, wie Schmerzen an der Einstichstelle, Kopfschmerzen oder Müdigkeit. Schlagzeilen gemacht haben einzelne allergische Reaktionen. Inzwischen gibt es eine Warnung, wonach Menschen mit sehr starken Allergien nicht geimpft werden sollten, ist doch der Impfstoff sehr immunogen und in der Lage, starke Immunantworten auszulösen. Ursächlich ist für die allergischen Reaktionen jedoch nicht die verabreichte mRNA, es sind zugesetzte Substanzen, wie wir sie auch bei anderen Impfstoffen kennen. Es ist davon auszugehen, dass in wenigen Monaten ein weiterer mRNA-Impfstoff zugelassen werden dürfte, von der deutschen Firma CureVac, dem Vorreiter in der Tumorimmunisierung. Damit gäbe es wenigstens drei verschiedene, letztendlich aber auf einem gleichen Wirkmechanismus beruhende mRNA-Impfstoffe, deren Unterschiede hinsichtlich Wirkstärke und Wirkdauer, abgesehen von den verschiedenen Lagerungsbedingungen, noch eingehende Untersuchungen bedürfen.

Neben den mRNA-Impfstoffen werden bei SARS-CoV-2 auch sog. Vektorimpfstoffe zum Einsatz kommen, wie diejenigen vom schwedisch-britischen Pharmaunternehmen Astra-Zeneca und vom US-amerikanischen Pharmazie- und Konsumgüterhersteller Johnson & Johnson. Bei Vektorimpfstoffen wird ein harmloses meist Adenovirus als Vektor verabreicht, in das z. B. ein Gen von SARS-CoV-2 gentechnisch eingebaut wurde. Dieser Vektor hat die besondere Eigenschaft, dass er sich nur einmal vermehren kann. Hierbei kommt es also zu einer kurzen Infektion mit einem harmlosen Virus, wodurch ein Protein von SARS-CoV-2 produziert wird. Dagegen richtet sich dann die Immunantwort. Bei dem Impfstoff, den die Universität Oxford gemeinsam mit AstraZeneca entwickelte, gab es ein Problem mit der Dosierung in der Phase-III–Studie, wodurch sich das Zulassungsverfahren verzögerte. Es ist aber davon auszugehen, dass diese Zulassung ebenfalls in den nächsten Monaten erfolgt, für einen Impfstoff, der bei Kühlschranktemperatur lagerbar ist und zudem deutlich kostengünstiger als die mRNA-Impf-stoffe. Im Kontext der Vektorimpfstoffe darf der Hinweis nicht fehlen, dass es auch hier zu schweren allergischen Reaktionen kommen kann. Als weitere Impfstoffgruppe zu nennen sind Impfstoffe, die rekombinant hergestelltes Virusprotein von SARS-CoV-2 einsetzen.

Rekombinante Impfstoffe enthalten Proteine, die künstlich mithilfe von gentechnisch veränderten Mikroorganismen oder in Zellkulturen hergestellt werden. Zwischenzeitlich wurden erste klinische Ergebnisse einer Phase-I/II-Studie zu einem solchen rekombinanten Impfstoff von der US-amerikanischen Firma Novavax vorgestellt, der rekombinant hergestelltes SARS-CoV-2-Spike-Glykoprotein enthält. Phase-III-Studien sind angelaufen. Das britische Pharmaunternehmen GlaxoSmithKline ist ebenfalls mit der Erstellung eines rekombinanten Impfstoffes befasst. Es ist davon auszugehen, dass die rekombinanten Impfstoffe weniger immunogen sind als die mRNA-Impfstoffe und die Vektorimpfstoffe.

Die vorangegangene Erläuterung zu den verschiedenen Impfstoffgruppen ist hoffentlich dazu geeignet, auch möglichen Impfskeptikern oder Impfgegnern unter Ihnen ein wenig mehr Vertrauen in die Impfung gegeben zu haben. So kann ich nur dringend empfehlen, die Möglichkeit der Impfung auch tatsächlich zu nutzen. Jede Impfung bedeutet einen unverzichtbaren Schutz der individuellen Gesundheit, dafür haben wir in der Vergangenheit diverse erfolgreiche Beispiele. Und jede Impfung ist auch ein gesellschaftlicher Beitrag, Mitmenschen zu schützen, ganz besonders in der Pandemie.

Es ist nicht nur mit der Bereitschaft zur Impfung getan. Jetzt stehen wir vor der gewaltigen logistischen Aufgabe, innerhalb möglichst kurzer Zeit viele Millionen Menschen schnell und sicher zu impfen. Und dies muss von Menschen gemacht werden, zumal es keine voll digitalisierte roboterassistierte Impfstraße gibt. Wir alle haben solche Massenimpfungen noch nicht erlebt. Und wir müssen tolerant sein gegenüber Fehlern, Problemen und Ängsten, die diese gewaltige Herausforderung mit sich bringt.

 

Prof. Dr. Jochen A. Werner befasst sich für das Publikum von TOP RUHR aus Anlass der Pandemie mit allem Wissenswerten zum Thema Impfung

Wie wird die Impfung nun konkret ablaufen? Die Ständige Impfkommission hat sinnvolle Vorgaben als Empfehlung definiert, in welcher Reihenfolge welche Personengruppen geimpft werden sollen. Dabei orientierte sich die Kommission in erster Linie am Alter, aber auch an möglichen Vorerkrankungen sowie an der Infektionsgefahr im Rahmen der beruflichen Tätigkeiten. In den ersten fünf Kategorien, die eine erhöhte Priorität haben, sind jeweils zwischen 5,5 Millionen und neun Millionen Menschen aufgeführt. Der Großteil der Bevölkerung – rund 45 Millionen Menschen – ist in der untersten Kategorie mit einer „niedrigen Priorisierung“ eingeteilt. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat diese Empfehlungen umfassend aufgegriffen und in drei Gruppen zusammengefasst.

 

Alle Menschen im Alter von über 80 Jahren gehören zur ersten Gruppe – ihnen wird eine “sehr hohe Priorität” zugeschrieben. Die Gruppe umfasst außerdem Bewohner und Personal von Pflegeheimen, Mitarbeiter von ambulanten Pflegediensten, Personal auf Intensivstationen, in Notaufnahmen und im Rettungsdienst. Alle diese Personengruppen haben ein besonders hohes Risiko für schwere oder tödliche Verläufe, sind beruflich besonders exponiert oder haben engen Kontakt zu besonders gefährdeten Menschen. Bereits mit SARS-CoV-2 infizierte Menschen werden zunächst nicht geimpft. Ob und wann diesen Personen später eine Impfung angeboten wird, ist noch nicht entschieden. Auch das Impfen von Kindern ist derzeit noch nicht zugelassen, hier sind zunächst die Ergebnisse weiterer Studien erforderlich, die derzeit durchgeführt werden. Ebenfalls ist noch unklar, wie lange eine Impfung wirkt, hier werden sich möglicherweise auch Unterschiede bei den verschiedenen Impfstoffen ergeben. Vielleicht erreichen wir irgendwann einen Zustand wie bei der Grippe, wo wir regelmäßig unseren Impfschutz auffrischen müssen. Vielleicht macht eine Impfung gegen die SARS-CoV-2-Infektion oder Erkrankung auch wirklich langfristig immun. Das ist aber derzeit völlig ungewiss, ebenso wie die Frage, ob bereits an Covid-19 erkrankte Menschen für den Rest ihres Lebens oder nur einen begrenzten Zeitraum immunisiert sind. Außerdem wird wissenschaftlich geklärt werden müssen, ob geimpfte Menschen sich nicht anstecken oder „nur“ nicht erkranken. Im zweiten Fall könnten diese Menschen nach wie vor das Virus übertragen. Kurzum: Wir werden auch in den nächsten Monaten sehr viel lernen, und der Beginn des Impfens bedeutet noch lange nicht das Ende der Pandemie. Auf absehbare Zeit werden wir die bewährten AHA-Maßnahmen beibehalten müssen. Von der Bereitschaft zur Impfung wird außerdem abhängen, ob die Anzahl der immunisierten Menschen zu einer Herdenimmunität, also zu einem Schutz für die Allgemeinheit führen kann.

 

 

Impfung als gesellschaftliche Herausforderung und Voraussetzung zur Krisen-Bewältigung

Weiterhin relevant ist, dass die Zeit gegen uns spielt. Je länger die Pandemie andauert, desto mehr Mutationen wird es geben. Die kürzlich in London und Südengland beobachtete Mutation des Coronavirus führte relativ rasch zu erheblichen Konsequenzen im internationalen Reiseverkehr von und nach Großbritannien. Solche Ereignisse werden uns mehr und mehr beschäftigen. Dabei müssen wir uns vergegenwärtigen, dass man Mutationen des SARS-CoV-2-Virus nur über eine Gensequenzierung entdecken oder bestätigen kann. Das ist ein aufwendiges Verfahren. Typischerweise führt man eine solche Gensequenzierung zum Beispiel bei auffälligen Ausbruchssituationen durch. Schließlich wäre es unvorstellbar und zudem auch nicht sinnhaft, jedes Isolat auf mögliche Mutationen hin zu testen. Deshalb wissen wir auch gar nicht genau, welche Mutationen sich gerade wo verbreiten. Grundsätzlich gilt, die Analyse der Wissenschaftler abzuwarten und keine Panik zu verbreiten, wenn Angaben zur erhöhten Infektiösität oder gar zur Erkan-kungsschwere durch ein mutiertes Virus gemacht werden. Hier können auch Zufälle eine Rolle spielen, wenn zum Beispiel zwei oder drei Superspreader-Ereignisse mit einem solchen mutierten Virus vorkommen, dann breitet sich ein solches Virus schnell aus, ohne dass diese Virusvariante deutlich andere Eigenschaften haben muss. Wir sind also weiter angehalten, unsere Kontakte zu reduzieren, alle Sicherheitsmaßnahmen zu beachten und Interpretationen zum Virusverhalten den in diesem Fachgebiet ausgewiesenen Wissenschaftlern zu überlassen.

All diesen Gedanken lässt sich entnehmen, dass uns die Impfung bei der Pandemiebewältigung helfen wird, dass wir aber auf keinen Fall aufhören dürfen, vergangene Fehler auszumerzen. Hierzu gehören die vorwähnten schweren Defizite in der Digitalisierung und der überzogene Datenschutz, der nicht nur die Corona-Warn-App in ihrem Potential weitgehend lahm legte, sondern auch aktuell dazu herangezogen wird, die unbestreitbare Sinnhaftigkeit einer umfassenden Elektronischen Patientenakte jedes Bürgers in Frage zu stellen. Gesundheitsschutz geht über Datenschutz.

Werfen wir zum Schluss noch einen Blick in die Zukunft. Gegen Ende dieses noch jungen Jahres werden wir hoffentlich so weit sein, dass zumindest ein Großteil der impfbereiten Menschen auch tatsächlich geimpft sein wird. Aber wahrscheinlich werden wir zu diesem Zeitpunkt auch noch einen – hoffentlich immer kleiner werdenden – Kern von Impfgegnern haben. Was wird diese Entwicklung mit der Gesellschaft machen? Werden Gastwirte nur noch geimpfte Personen einlassen wollen, Airlines nur noch geimpfte Passagiere transportieren und in den öffentlichen Verkehrsmitteln Bereiche mit und ohne Mund-Nasen-Schutz eingerichtet werden, je nach Impfstatus? Und was ist mit dem verfassungsgemäßen Recht auf Gleichbehandlung? Das alles ist heute schwer vorherzusehen. Ich hoffe nur, dass – egal wie die individuelle Entscheidung zum Impfen ausfällt – die Gesellschaft tolerant damit umgeht und keine Bevölkerungsgruppe stigmatisiert wird. Diese Pandemie wird, auch abhängig von der Dauer der Wirksamkeit des Impfstoffs, womöglich niemals vollständig enden. So wird sie uns auch in Zukunft begleiten, aber nicht mehr das tägliche Leben dominieren. Wir brauchen daher eine möglichst geeinte Gesellschaft, die die Folgen der Corona-Krise meistert. Denn viele Rechnungen, wie etwa die gestiegene Staatsverschuldung, müssen wir in Zukunft gemeinsam und solidarisch bezahlen. Und … wir sollten uns schon jetzt intensiv auf die nächste Pandemie vorbereiten, denn diese wird kommen, mit Sicherheit, und wir haben eine große Chance, die nächste Pandemie zumindest seitens der Organisation und grenzüberschreitend besser zu bewältigen.

 

Digitalisierung dient der Gesundheit
Artikel von www.top-magazin.de/ruhr