Konjunkturprognosen als etabliertes Instrument der ökonomischen Forschung kennen wir alle. Werfen wir gemeinsam einen Blick auf ein besonderes Henne-Ei-Phänomen in diesem Zusammenhang und wie die Ökonomen am ifo-Institut für Wirtschaftsforschung in München damit umgehen
Die Wirtschaft entwickelt sich in Zyklen, also in wiederkehrenden Phasen. Auf eine Hochphase folgt ein Abschwung bis zur Depression. Anschließend kommt nach dem sich verlässlich einstellenden Aufschwung erneut die Hochkonjunktur. Darüber sind sich die Gelehrten einig. Nur: Wie lange dauern die Phasen und wann geht‘s los mit der nächsten? Politiker und Regierung wollen das wissen, um ihre Wirtschafts-, Finanz- oder Sozialpolitik möglichst punktgenau auszurichten und ihre Haushalte zu planen. Beispielsweise kann die Politik gezielt eingreifen, zeichnet sich eine Depression ab: Sozialpolitische Maßnahmen können gestartet werden, die negative Folgen dämpfen. Bei einer bevorstehenden Hochkonjunkturphase können wirtschaftspolitische Maßnahmen ergriffen werden, um z.B. ausreichend Arbeitskräfte für die florierenden Unternehmen zur Verfügung zu stellen. Auch Unternehmen ist diese Information viel wert, denn sie müssen sich rechtzeitig um Investitionen in Maschinen kümmern oder um zusätzliche Arbeitskräfte bemühen. Banken und Anleger hecheln danach, um nicht den richtigen Zeitpunkt für Investments in die aussichtsreichsten Branchen zu verpassen (vgl. Döhrn, Roland (2018): Wie entstehen Konjunkturprognosen?, RWI Impact Notes, RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, Essen).
Diesen Zeitpunkt so früh wie möglich zu erkennen, um dann angemessen zu reagieren, das ist die Kunst der Ökonomen. Wir sprechen also über eine Art Kreislauf: Die Wirtschaftsentwicklung ist die Grundlage der Konjunkturprognosen. Umgekehrt haben aber auch die Prognosen Einfluss auf die Konjunktur. Hier scheint es immerhin etwas einfacher zu sein, als bei der Frage „Was war zuerst da, die Henne oder das Ei?“ Denn Wirtschaft und Handel betrieb die Menschheit schon, bevor sie das Feuer entdeckte. Systematische, wissenschaftlich fundierte Konjunkturprognosen kamen erst „etwas“ später. Die Wirtschaftsentwicklung war also zuerst da. Seit es aber Konjunkturprognosen gibt, ist eine andere Frage naheliegend. „Werden die Wirtschaft und ihre Entwicklung von den Prognosen beeinflusst oder ist es umgekehrt?“ Zuerst ist die Entwicklung da, die dann mit wissenschaftlichen Methoden analysiert wird und auf deren Basis Prognosen für die Zukunft entwickelt werden? Natürlich haben sich Wissenschaftler auch darüber den Kopf zerbrochen. Eines der renommiertesten Forschungsinstitute, die regelmäßig Prognosen zur Wirtschaftslage und deren Entwicklung veröffentlichen, ist das ifo-Institut für Wirtschaftsforschung in München. Ein Team von rund 15 Experten geht hier genau dieser Frage nach. Einer der bekanntesten Indikatoren ist der ifo-Geschäftsklimaindex, für dessen Ermittlung seit 1949 regelmäßig einige Tausend Unternehmen um Feedback gebeten werden.
Der ifo-Geschäftsklimaindex steht und fällt mit der Einschätzung der Befragten zur Wirtschaftslage und zu den Geschäftserwartungen ihrer Unternehmen (vgl. Abbildung). Steigende Werte bedeuten eine optimistische, fallende (wie zu Beginn der Corona-Krise oder des Ukraine-Krieges) eine pessimistische Erwartungshaltung.
Und auch zur „Henne-Ei Frage“, wie Konjunktur und Konjunkturprognosen aufeinander wirken, werden im ifo-Institut Forschungsanstrengungen unternommen. Dabei zeigt sich, dass die Vorhersagen durchaus die Wirtschaft beeinflussen, sobald sie veröffentlicht werden. Die Wissenschaftler des ifo-Instituts wiesen nach, dass ihre Prognosen die Finanzmärkte verändern und dort unmittelbare Kursreaktionen an den Börsen oder sogar EURO-Dollar-Wechselkursänderungen auslösen (vgl. Stefan Mittnik, Nikolay Robinzonov und Klaus Wohlrabe in ifo Schnelldienst 23/2013 – 66. Jahrgang – 12. Dezember 2013).
Der besonderen Verantwortung, die damit verbunden ist, wird im ifo-Institut mit einem ganz besonderen Prozess begegnet (vgl. Klaus Wohlrabe, 2020). „Das ifo Geschäftsklima“. In: ifo Handbuch der Konjunkturumfragen, S. 111 – 115), einer monatlich wiederkehrenden Zeremonie, die so konsequent und präzise eingehalten wird wie die Papstwahl in der Sixtinischen Kapelle:
• Datenverarbeitung und Berechnung des ifo-Geschäftsklimaindex erfolgen erst unmittelbar vor dem Veröffentlichungstag, in der Nacht zuvor, abgelegt auf einem streng geschützten Laufwerk.
• Ab 07.30 Uhr erstellt der Leiter der ifo-Umfragen, Dr. Klaus Wohlrabe, einen Entwurf der Pressemitteilung, die er dann von 08.45 bis 09.45 Uhr mit dem ifo-Präsidenten, dem Konjunkturchef, einem weiteren Konjunkturexperten, dem Pressechef und einem Übersetzer diskutiert.
• Exakt um 10.00 Uhr werden die Werte des ifo-Geschäftsklimaindex dann in einer Telefonkonferenz verkündet, an der ausschließlich bei der Europäischen Zentralbank akkreditierte Nachrichtenagenturen teilnehmen dürfen. Diese Agenturen veröffentlichen die Werte anschließend unmittelbar über ihre hauseigenen Nachrichtenticker, das Geschäftsklima ist damit um 10.30 Uhr öffentlich.
(ifo-Zentrum für Makroökonomik und Befragungen, im ifo-Institut München)
Top: Die ifo-Unternehmensbefragungen gibt es seit Ende des Zweiten Weltkrieges, seit den Zeiten des Wiederaufbaus in Deutschland. Müssen die Prognosemethoden ihres Instituts immer wieder angepasst werden oder sind die ökonomischen Regeln, die hier zugrunde liegen, über so viele Jahre stabil?
Dr. K. Wohlrabe: Den ifo-Geschäftsklimaindex gibt es seit 1972, die Umfragen zur Einschätzung der Wirtschaftslage tatsächlich bereits seit 1949. Die Fragen halten wir über diesen langen Zeitraum so konstant wie möglich. Damit werden die Indikatoren, die wir veröffentlichen, auch über lange Zeitreihen hinweg vergleichbar. Das macht eine der Stärken des ifo-Geschäftsklimaindexes aus.
Top: Haben die Prognosen auch Wirkungen auf einzelne Unternehmen, werden sie von Unternehmern genutzt?
Dr. K. Wohlrabe: Beim ifo-Geschäftsklimaindex handelt es sich primär um eine makroökonomische oder branchenweite Betrachtung. Allerdings können einzelne Unternehmen durchaus ein „Benchmarking“ damit anstellen, d.h. eine Einschätzung zur Position des eigenen Unternehmens in der betreffenden Branche ableiten. Denn die an der Befragung teilnehmenden Unternehmen bekommen über ein geschlossenes Portal die Möglichkeit, tief in die eigene Branche „runter zu drillen“ wie wir das nennen, d.h. sie bekommen sehr detaillierte Ergebnisse ihrer Branche und können sich damit positionieren.
Top: Sie kennen das sogenannte Henne-Ei Problem. Wie ist das mit den Wirtschaftsprognosen, ist zuerst die Konjunktur da und dann kommen die Prognosen oder gibt es auch den umgekehrten Zusammenhang, dass die Prognosen die Entwicklung determinieren?
Dr. K. Wohlrabe: Dass die Ergebnisse unserer Berechnungen Effekte auf die Wirtschaft haben, ist der Grund für das strenge Procedere, mit dem sie veröffentlicht werden. Daher unterliegen wir auch einer strengen Kontrolle der Finanzaufsichtsbehörden. Das Prinzip ist: Transparenz zu einem definierten Zeitpunkt und damit fair für alle Marktteilnehmer. Also ja, die Indices – und hier insbesondere Abweichungen von erwarteten Werten – können den Markt unmittelbar beeinflussen.
Top: Herr Dr. Wohlrabe, vielen Dank für das Interview und die interessanten Einblicke in den Maschinenraum des ifo-Geschäftsklimaindex!