Empfohlene Artikel

Leise ist das neue Laut

GANZ GLEICH, WIE EIN JEDER LUXUS FÜR SICH DEFINIEREN MAG: LUXUS FINDET GERADE IN DIESEM MOMENT ZU SEINEM URSPRUNG, DER LEBENSKUNST, ZURÜCK. UND DIE FINDET IMMER ÖFTER JENSEITS MATERIELLER FREUDEN STATT. „DER HÖCHSTE LOHN FÜR UNSERE BEMÜHUNGEN IST NICHT DAS, WAS WIR DAFÜR BEKOMMEN, SONDERN DAS, WAS WIR DADURCH WERDEN, SO DIE FESTSTELLUNG VON JOHN RUSKINS, ENGLISCHER SCHRIFTSTELLER, MALER, KUNSTKRITIKER UND MÄZEN DES BERÜHMTEN ENGLISCHEN MALERS WILLIAM TURNER.


Ist Luxus im Prozess? Erfindet er sich gerade vollkommen neu? Geht es nicht mehr um die bewusste Zur-Schau-Stellung von Reichtum? Ein Eindruck, der naheliegt. Was treibt  beispielsweise Hollywoods Gagenmillionärin Nicole Kidman, deren Vermögen aktuell auf um die 250 Millionen US-Dollar geschätzt wird, dazu, auf ihrer Farm in New South Wales Landwirtschaft und Viehzucht zu betreiben? Nicht, dass Mrs. Kidman nicht dazu in der Lage wäre,die Waren des täglichen Bedarfs für ihre Familie im Supermarkt zu besorgen. Das ist nicht der Punkt. Es geht vielmehr um Lebensqualität und Selbstverwirklichung. Es geht um eine Verschiebung des Luxusbegriffs hin zu etwas Angemessenem. Es geht um Wohlstandsgeflüster,  um Luxus, der sich an der Zeit orientiert; um leise Töne, nicht laute und damit automatisch auch um Nachhaltigkeit im Sinne eines achtsamen Umgangs mit natürlichen Ressourcen.

Trendsetzer im Luxusmarkt sind all jene, die ihr Bewusstsein für begrenzte Ressourcen schärfen; die auf Werthaltigkeit und Qualität setzen und Produkte herstellen, die logischerweise kostspieliger sind als andere. Marken, die dies konsequent praktizieren und ein Maximum an Qualität und Komfort bieten, symbolisieren geradezu exemplarisch die Art des zukunftsorientierten Luxus. Und der ist leise. Punktum.

Immer mehr Luxusbrands in der Modeindustrie verzichten nahezu vollständig auf den Einsatz von marktschreierisch überdimensionierten Logos und Belabelungen. Warum perfektes Handwerk und herausragende Qualität länger augenfällig etikettieren? Und siehe da, plötzlich wird ein perfekt gesetzter Abnäher wieder viel wichtiger als eine vulgäre Logoschnalle und vor allem mit der jeweiligen Marke identifiziert. Um bei der Mode zu bleiben: Alle großen Marken der Fünfziger fertigten auf Maß und zeigten ihre Kreationen ausschließlich in Couture-Häusern. Wirklich Exklusives gab es nur einmal in den Salons. Und ebendieser Trend setzt sich heute wieder durch.  Domenico Dolce und Stefano Gabbana, die Frauenversteher unter den Modemachern, zeigen gegen Ende ihrer großen Schauen immer ein bis zwei Couture-Kleider. Und die werden nur auf Bestellung und von A bis Z von Hand gefertigt. Bravo!

Einzigartigkeit, Identifikation und Authentizität

Die Sehnsucht nach Exklusivität mit Tiefe und emotionalem Mehrwert spiegelt sich auch auf dem Markt der Luxusreisen wider. Zwar liegt der Erlebnissektor noch immer weit unter dem Niveau von vor der Pandemie, Experten gehen jedoch davon aus, dass er sich bis 2024 wieder auf das Niveau von 2019 erholt. Trotz des zögerlichen Genesungsprozesses ist die Nachfrage nach Reisen größer denn je. Der Mensch will wieder etwas erleben. Er sucht nach Emotionen. Und: Er achtet bei seiner Wahl viel mehr auf Qualität und Wertigkeit als je zuvor. Für entsprechende Anbieter eine Herausforderung. Da muss man flexibel sein. Da muss man wissen, was gut ist und wo man es findet. Da muss man gewohntes Terrain verlassen, mutig sein und etwas anders machen. „Es ist nicht mehr wichtig, wie teuer der Wein ist, den ich trinke, sondern ob ich weiß, wo er herkommt; ob ich die Lage, das Terroir kenne, auf dem er wächst – und dass ich mit dem Winzer per Du bin“, sagt der renommierte Trend- und Zukunftsforscher Matthias Horx.

Kennen Sie das AnaYela? Das Boutiquehotel in einem 300 Jahre alten Stadtpalast in Marrakesch ist ein Juwel und eines der ersten Nachhaltigkeitsprojekte in einer Medina. Der deutsche Unternehmer Bernd Kolb ließ das Bauwerk behutsam und ohne Einsatz von Elektrowerkzeugen von mehr als einhundert Handwerkern restaurieren. Alle Möbelstücke, sämtliche Leuchten, Verzierungen und Dekorationen bis hin zum Tafelgeschirr wurdenausnahmslos von marokkanischen Kunsthandwerkern gefertigt – sinnlich, emotional, regional echt und atemberaubend schön. Neuer Luxus verbindet heute Architektur, Kultur und die Möglichkeitzu kreativer Neugier.

Zu Einzigartigkeit und Identifikation gesellt sich Authentizität. Authentische Marken bekennen sich zu ihren Werten. Ja, zu ihren Werten und nicht zu irgendeinem bedeutungsschwanger hohlkreuzig vor sich her geschobenen Corporate Purpose. Wahre Werte sind echt. Und das ist es, was sie stark macht. Warum sonst kann eine Luxusmarke wie Hermès gerade heute so hohe Umsatzzahlen verbuchen? Weil Authentizität zeitlose Marken schon immer stark gemacht hat. Nur wer seine Wurzeln kennt und sie sorgsam pflegt, kann anderen Orientierung geben.

„Luxus definiert sich weniger durch den Wert als durch die Einzigartigkeit, die Handwerkskunst und die Tradition“, so Sebastian Knop, lange Jahre an der Spitze der Luxusuhren-Marke Vacheron Constantin. Das klingt gut. Denn das heißt auch, dass es wohl in Zukunft weniger „show-off“ und dafür wieder mehr Freude an bleibendem, zeitlosem und echtem Luxus geben wird.

Sich von anderen abheben

Doch neuer Luxus, Luxus im Zeitalter der Individualisierung, bedeutet noch mehr. Der Kunde will nicht mehr nur Konsument sein; ein jemand, der sich für irgendein fertiges Produkt entscheidet. Er will gefragt werden, will mitreden und Einfluss nehmen. In der Automobilindustrie bedeutet Luxus heute mehr denn je, sich von anderen abzuheben und Automobile zu bauen, die ganz nach Gusto gestaltet wurden. Unikate eben. Ein geschätzter Freund verriet mir einmal, er wünsche sich ein Fahrzeug, das wie ein riesiger Rochen anmutig durch türkisblaues Wasser gleite … Bildhafte Wünsche wie diese wissen nur Enthusiasten zu deuten.

In der Kunst wiederum nimmt Luxus eine Sonderrolle ein. Wie kein anderes Luxusgut verbindet Kunst die Aura von Exklusivität mit sozialer Verantwortung. Kunst hat oft einen sehr hohen Preis und so manch einer mag vielleicht behaupten, er stünde in keinem Verhältnis zu den Kosten der Produktion oder denen des Materials. Doch die Willkür des Kunstschaffenden – dieses letzte Fitzelchen Mystik und Unerklärbares – das ist es, was Kunst so reizvoll macht. Und letztlich ist die Begegnung mit dem Künstler für viele Menschen eine willkommene Abwechslung in ihrem Alltag. Kunst also als dringend benötigte Inspiration fernab aller Konventionen. Und überhaupt: Muße, freie Zeit und eben nicht 24/7 verfügbar zu sein, ist zum Inbegriff des neuen Luxus geworden. Eine Haltung, die nahezu zur Religion avanciert. Zeit ist das Letzte, das wir verschwenden sollten!

Ein neues Wertebewusstsein

Kürzlich hat Christie‘s International Real Estate Architekten, Künstler, Designer und andere Vordenker zu ihrer ganz eigenen Definition des Luxusbegriffs befragt. Dabei herausgekommen ist eine Reihe tiefgründiger und sehr persönlicher Betrachtungen. Der Künstler und Designer Arik Levy zum Beispiel definiert Luxus für sich so: „Luxus ist Wahlfreiheit – Zeit, Raum und Freiheit für Geist, Seele und Körper. Das alte Sprichwort ‚Die Welt dreht sich um Menschen‘ bringt heute mehr denn je die wichtigsten Aspekte des Lebens auf den Punkt. Die Menschen dort zu haben, wo und wann man sie sehen möchte, ist die wahre Definition von Luxus.“*

Mit dieser Sicht ist er nicht allein. Auch für Lucinda Chambers, Modedirektorin und Mitbegründerin der Online-Shoppingplattform Collagerie, rangiert die persönliche Freiheit seit Existenz der Pandemie ganz weit oben. Sie sagt: „Nach der Zeit, die wir erlebt haben, scheint die Freiheit das luxuriöseste Geschenk zu sein, das man uns machen kann. Die Freiheit, sich zu bewegen,
zu reisen, im Meer zu schwimmen, unsere Freunde und Familie ohne Angst zu sehen … das ist mein großer Luxus.“*

David Rockwell, Gründer und Präsident der Rockwell Group, betrachtet Luxus ganz persönlich so: „Die Pandemie hat mir gezeigt, dass der wahre Luxus heutzutage die gemeinsamen Erlebnisse sind, die viele von uns, mich eingeschlossen, früher oft für selbstverständlich hielten. Ein mehrgängiges Menü in einem guten Restaurant, eine Theatervorstellung im Freien mit Freunden, in einem Straßencafé sitzen und Leute beobachten … Diese Momente sind heute luxuriöser denn je.“*

Und auch David Rabin, Gründer der spektakulären Rooftop-Bar Jimmy in SoHo, New York, definiert Luxus jenseits dessen, was man für Geld kaufen kann: „Der größte Luxus ist Zeit. Wenn man jünger ist, glaubt man tatsächlich, dass man sich langweilen kann. Wenn man aber älter wird, merkt man, dass der Tag nie genug Zeit für Familie, Arbeit, Sport, Lesen, Nachdenken und Schlaf bietet.“*

Wenn wir also den Begriff Luxus im Sinne seiner Herkunft betrachten, wo er nicht mehr und nicht weniger Üppigkeit und Verschwendung bedeutet, gilt es umso mehr, umzudenken. Luxus von heute braucht das Bewusstsein für Werte. Zeit, Aufmerksamkeit, Stille, Kontemplation, Sinnhaftigkeit und Ethik bestimmen das Luxusverständnis. Der Luxus von heute will aufgeklärte Menschen und schlafwandlerisch sichere Einschätzungen gegenüber Produkten und ihren Werten. Erst dann entwickeln sie ihr ganzes Potenzial.

*Quelle: Christie‘s International Real Estate. „The Definition of Luxury: Experts and Tastemakers have their say.“ (12/2021)

Artikel von www.top-magazin.de/stuttgart