Kultur

Jochen Sandig Intendant der Ludwigsburger Schlossfestspiele

Als Intendant der Ludwigsburger Schlossfestspiele ist Jochen Sandig mit dem Ziel angetreten, das Festival als „Fest der Künste, Demokratie und Nachhaltigkeit“ in die Zukunft zu führen. 2020 und 2021 hat Corona einem glanzvollen Auftakt erst einmal mehr oder weniger einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die dritte Spielzeit unter Sandigs Leitung ist diesen Sommer zu Ende gegangen. top magazin sprach mit dem 54-jährigen gebürtigen Esslinger über sein Konzept und die Pläne für die kommenden Jahre.


top: Herr Sandig, 2022 war Ihr erstes komplettes Publikumsfestivaljahr in Ludwigsburg. Das hatten Sie sich bei Ihrem Arbeitsbeginn am 1. Oktober 2019 sicherlich anders vorgestellt.

Sandig: Absolut, aber die Hintergründe hierfür sind ja hinlänglich bekannt. Coronabedingt war denn auch meine erste Saison in Ludwigsburg für mich ein besonders „ausgefallenes“ Festival im wahrsten Sinne des Wortes. Wenigstens konnten wir am Ende acht Konzerte vor Publikum spielen und darüber hinaus mit der Performance „I can’t breathe“ sowie weiteren Aktionen einen großen Erfolg und viel positive Resonanz erzielen. Darüber hinaus wurde unser Programmbuch – das hat mich wirklich sehr gefreut – von der Stiftung für Buchkunst als eines der 25 schönsten und innovativsten deutschen Bücher 2020 ausgezeichnet. 2021 konnten wir dann nach einem rein digitalen Auftakt im Mai ab Mitte Juni endlich vor Publikum und an häufig – unter Corona-Bedingungen – ausverkauften Spielorten spielen.

top: 2022 blieb der Zuspruch aber mit einer Auslastung von etwa 50 Prozent sicherlich weit unter Ihren Erwartungen. Lag’s am Programm oder an der Kulturmüdigkeit vieler Menschen?

Sandig: Ich bin mir ganz sicher, dass es nicht am Programm lag. Die bei den jeweiligen Veranstaltungen anwesenden Besucherinnen und Besucher waren sehr begeistert und quittierten die Darbietungen häufig mit Standing Ovations und langem Applaus. Unser Programm erregt Aufmerksamkeit, die Besonderheit und Vielfalt der Ludwigsburger Festspiele mit ihren einzigartigen Spielorten wird wahrgenommen. Diese Besonderheit muss sich aber noch stärker manifestieren. Unser Anspruch ist es, dass die Leute wieder sagen: „Da müssen wir unbedingt hin.“ Dieses Jahr hat gezeigt, dass die Menschen sich heutzutage sehr kurzfristig für einen Konzertbesuch entscheiden. Vor Corona gab es ein Stammpublikum, das viele Veranstaltungen fest im Jahreskalender eingeplant hatte. Im nächsten Jahr kommen wir hoffentlich wieder auf eine Auslastung von deutlich über 70 Prozent. Denn gemäß meinem Motto “Erfüllte Seelen in gefüllten Sälen“ tut mir als guter Gastgeber jeder leere Platz weh. Wir setzen deshalb auch wieder verstärkt auf das urbane Publikum unter anderem aus Stuttgart.

top: Sie hatten die Besonderheit der Festspiele angesprochen. Können Sie das näher erläutern?

Sandig: Die größte Neuerung, die ich eingeführt habe, ist meines Erachtens die Weiterentwicklung der Festspiele in ein „Fest der Künste, Demokratie und Nachhaltigkeit“. Als eines der traditionsreichsten Festivals der Bundesrepublik Deutschland wollen wir eine modellhafte Positionierung in der Gegenwart einnehmen, um gemeinsam mit unserem Publikum an einer offenen und nachhaltigen Gesellschaft der Zukunft mitzuwirken. Im Zentrum steht dabei die Musik als verbindende universelle Sprache, die alle Menschen verstehen. In diesem Kontext wollen wir unter anderem durch neue Kreationen die Vielfalt der Gesellschaft in ihrer ganzen Breite und Tiefe erreichen. Inhaltlicher Anker und Kompass sind die großen Fragen unserer Zeit, die sich insbesondere auch in den 17 Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen als weltweite Agenda 2030 widerspiegeln. Deren Inhalte sollen der Sicherung einer nachhaltigen Entwicklung auf ökonomischer, ökologischer und sozialer Ebene als Dreiklang dienen. Damit schließt sich in gewisser Weise ein Kreis, denn die „Sustainable Development Goals“ wurden seinerzeit aktiv von einem prominenten Ehrenbürger der Stadt Ludwigsburg mit auf den Weg gebracht: vom ehemaligen Bundespräsidenten Dr. Horst Köhler, den ich gewinnen konnte, gemeinsam mit seiner Frau Eva Luise Köhler die Schirmherrschaft der Schlossfestspiele zu übernehmen.

„Die Ludwigsburger Schlossfestspiele sind aus dem Geist der Musik heraus entstanden. Das bleibt auch weiterhin der Kern.“

top: Aber was haben Nachhaltigkeitsthemen mit Musik zu tun?

Sandig: Eine ganze Menge. So bin ich zum Beispiel gemeinsam mit Gabriele Zerweck als zweite Geschäftsführerin der Festspiele an meiner Seite der festen eine führende Rolle bei der Bewältigung lokaler und globaler Krisen zukommt. Wir haben hier eine wichtige gesellschaftliche Vorbildfunktion. Die Schaffung von Gleichheit, die Wahrung von Menschenrechten sowie ein nachhaltiger Verbrauch natürlicher Ressourcen für eine friedvolle, gerechte und sichere Zukunft sind die größten Herausforderungen unserer Zeit. In unserem Programm macht sich das unter anderem an einem fair ausgewogenen Anteil weiblicher, männlicher und diverser Künstler fest. Wir achten sehr auf den CO2-Verbrauch bei Reisen, gewinnen Gäste dafür, durch Residenzen länger zu bleiben und sich auf die Region einzulassen. Wir als Menschheit befinden uns in einer historischen Zeitenwende. Die Grenzen des quantitativen Wachstums sind längst erreicht und neue Konzepte des qualitativen Zusammenlebens und Teilens müssen dringend gemeinsam entwickelt werden. Diese Notwendigkeit hat die jüngste UN-Klimakonferenz im ägyptischen Sharm El-Sheikh nochmals ganz deutlich gemacht. In diesem Jahrzehnt wird sich entscheiden, ob es eine lebenswerte Zukunft für uns und kommende Generationen geben wird oder nicht. Diese Zukunft wollen wir als Festspiele, die 2022 in die zehnte Dekade gegangen sind, mit unseren Möglichkeiten aktiv mitgestalten. Wir möchten einen Beitrag zu einem größeren inneren Zusammenhalt der Gesellschaft jenseits aktueller Generationenkonflikte und eines wachsenden Nationalitätendenkens leisten. Die Kunstformen Musik und Tanz sind durch die in den Orchestern und Ensembles aktive Begegnung der Kulturen sehr gut in der Lage, diese Utopie in der Praxis zu erproben und zu leben.

Das Babylon Orchestra (Foto: Anton Tal)

top: Vielleicht möchte das Publikum aber auch einfach nur einen schönen Abend mit exzellent dargebotener Musik genießen. Braucht es tatsächlich eine weitere Ebene etwa in Form des von Ihnen angesprochenen Nachhaltigkeitsgedankens?

Sandig: Ich halte es für absolut legitim, demokratisches und nachhaltiges Handeln respektive den buchstäblichen Existenzkampf der Menschheit in die Dringlichkeit eines Festivals zu  überführen. Genau für diese Schlüsselthemen konnten wir übrigens beträchtliche Fördermittel durch den Bund aktivieren, ohne die unsere finanzielle Lage noch prekärer wäre. Demokratie und Nachhaltigkeit implizieren für mich zunächst einmal ein Bekenntnis unter dem Motto „Festspiele für Alle“ immer auf der Suche nach Antworten auf existenzielle Zukunftsfragen, die nicht nur auf der Bühne abgebildet werden, sondern sich aus dem Gesamterlebnis heraus ergeben. Selbstverständlich besteht meine Rolle in erster Linie darin, dafür zu sorgen, dass die Konzertbesuche für unser Publikum beglückende Erlebnisse sind. Wir glauben nicht, dass wir mit Kunst aktive Politik machen können, aber die gesellschaftlichen politischen Prozesse brauchen die Künste als Partner. Die Ludwigsburger Schlossfestspiele sind aus dem Geist der Musik heraus entstanden. Das bleibt auch weiterhin der Kern. Die Kunst steht an erster Stelle, damit verknüpfen sich die beiden anderen Themen Demokratie und Nachhaltigkeit. Inspiriert durch den humanistischen Traum eines Friedrich Schiller, wonach alle Menschen Schwestern  und Brüder werden, entwickeln wir sie nun weiter. Unser Anspruch sind Konzert- und Tanzerlebnisse von höchster künstlerischer Qualität. Aber wir wollen mehr bieten als „nur“  Unterhaltung. Wir zeigen uns daher offen für neue Formate und Experimente, um so – als ebenfalls wichtige Zukunftsaufgabe – ein jüngeres Publikum für uns zu gewinnen. Nur so können wir uns in der Kultur- und Festivallandschaft behaupten. Deswegen bin ich auch immer wieder auf der Suche nach Konzepten wie dieses Jahr Patricia Kopatchinskajas von der Violine aus geleitetes Konzert „Les Adieux“ zum Thema Klimawandel und Artensterben mit dem Mahler Chamber Orchestra – ein wirklich herausragendes künstlerisches Projekt, in dessen Zentrum Beethovens 6. Sinfonie, die „Pastorale“ stand.

„Selbstverständlich sollte auch die Politik mehr denn je in Kultur investieren und nicht nur als dekoratives „Sahnehäubchen“ in guten Zeiten betrachten.”

top: Die programmatischen Vorbereitungen für 2023 dürften in den letzten Zügen sein. Wird es ein Spielzeitmotto geben?

Sandig: Die Zeiten sind voller Wandel, daher haben wir uns früh gegen wechselnde Spielzeit-Motti entschieden. Wir haben ja bereits einen 17-farbigen Leitfaden. „Wo stehst Du? Was bewegt Dich? Wohin gehen wir?“ waren 2020 unsere drei Fragen an unser Publikum, unsere Partner und unsere eingeladenen Gäste. 2023 wollen wir ins aktive Handeln kommen und Fragen: „Was wollen wir bewegen?“. Es sind – wie unsere erste Vorschau zeigt – wieder viele spannende Konzerte und Formate zu erleben. Wie 2022 wird es völlig barrierefrei wieder unsere beliebte „Frei Luft Musik Reihe“ auf dem Ludwigsburger Marktplatz geben. In der Karlskaserne planen wir ein 17-Ziele-Camp, um mit der Stadtgesellschaft und internationalen Partnern über die wesentlichen Zukunftsfragen in den Dialog zu kommen. Ein weiteres Forum des „Zuhörens“ soll hier entstehen.

Lars Eidinger (Foto: Ingo Pertramer)

top: Um noch weiter in die Zukunft zu schauen: Haben Sie für 2024 schon einige Künstlerinnen und Künstler im Visier?

Sandig: Ja, wir sind unter anderem im Gespräch mit Grigory Sokolov, Martha Argerich, Asmik Gregorian und anderen großen Stars der Szene. Ich möchte aber weiterhin vor allem meiner Spürnase vertrauen und deshalb Künstlerinnen und Künstler nach Ludwigsburg einladen, über die man vielleicht erst in der nächsten Dekade so richtig spricht und dann sagen kann: „Die waren ja schon vor zehn Jahren zu Gast in Ludwigsburg.“ Das Publikum soll bei uns immer wieder auf Entdeckungsreisen mit vielen Überraschungen gehen können. Darin steckt für mich der Reiz von Festspielen, die wie wir ein eigenes starkes Profil haben.

top: Ein Festival wie die Ludwigsburger Schlossfestspiele steht und fällt mit der Finanzierung. Wie sieht es in dieser Hinsicht aus?

Sandig: Angesichts der weltpolitischen Lage können wir uns glücklich schätzen, neben unseren beiden öffentlichen Trägern – der Stadt Ludwigsburg und den Land Baden-Württemberg – weitere zuverlässige Partner, Sponsoren und Stiftungen an unserer Seite als Förderer zu wissen. Ich hoffe, dass das so bleibt. Gerade die Unternehmen und Arbeitgeber in der Region merken, dass unsere Projekte auch für viele ihrer Mitarbeitenden und Kunden von großem Interesse sind. Darin zeigt sich wiederum die Bedeutung der Kultur als „weicher Standortfaktor“. Selbstverständlich sollte auch die Politik mehr denn je in Kultur investieren und nicht nur als dekoratives „Sahnehäubchen“ in guten Zeiten betrachten.

 

Artikel von www.top-magazin.de/stuttgart