Seit Beginn der Pandemie ist Dr. Lisa Federle täglich im Einsatz gegen Covid-19. Einen Namen hat sich Deutschlands bekannteste Notärztin dabei unter anderem mit der von ihr initiierten Tübinger Test-Strategie gemacht. Im Gespräch mit top magazin erläutert die mittlerweile 60-Jährige, die für ihre Verdienste bei der Corona-Bekämpfung mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde, wie sie die aktuelle Corona-Lage sieht und welche Maßnahmen für die Zukunft erforderlich sein müssen.
top: Frau Dr. Federle, Sie haben insbesondere durch die ersten öffentlichen, kostenlosen Corona-Tests in Tübingen eine hohe mediale Aufmerksamkeit bekommen. Das hat Ihren Alltag sicherlich massiv verändert.
Federle: Die Arbeit an sich hat mich in der Tat sehr stark beansprucht, aber die mediale Aufmerksamkeit war ja bereits 2011 durch meine Kandidatur für den baden-württembergischen Landtag relativ hoch. Seinerzeit kamen zahlreiche bekannte Politikerinnen und Politiker nach Tübingen – sogar Angela Merkel und Ursula von der Leyen waren hier. Neu war für mich in der Corona-Pandemie, dass auf mich auch zahlreiche Medien aus dem Ausland wie etwa die BBC oder das Wall Street Journal zugekommen sind. Das reichte bis in die USA und nach Japan. Ich wusste irgendwann gar nicht mehr, mit welchem Fernsehsender ich es gerade zu tun hatte und stellte daraufhin einen Pressesprecher ein.
top: Wie bewerten Sie denn im Nachgang das von Ihnen initiierte Tübinger Modell?
Federle: Ich halte das Modell nach wie vor für absolut richtig. Meiner Ansicht nach war es ein Riesenfehler, das Projekt einzustellen beziehungsweise es ausschließlich von der Inzidenz abhängig zu machen. Die Inzidenz müsste immer in Relation zu den durchgeführten Tests gesetzt werden. Denn klar ist doch: Je mehr man testet, desto höher ist die Inzidenz. Und je mehr Infizierte man identifiziert, desto niedriger ist die Ansteckungsrate. Wir hatten in Tübingen bundesweit mit Sicherheit eine der niedrigsten Dunkelziffern.
top: Was würden Sie heute aus Ihrer Erfahrung heraus anders machen?
Federle: Grundsätzlich würde ich den Weg erneut gehen, dabei aber noch resoluter agieren. Aus meiner Sicht wäre es absolut notwendig gewesen, noch sehr viel früher die in Heimen lebenden alten Menschen zu schützen und bei ihnen auch ohne Symptome PCR-Tests durchzuführen. Dadurch hätte man viele Menschenleben retten können. In diesem Punkt hätte ich noch härter zum Beispiel gegenüber der Landesregierung in Stuttgart auftreten müssen.
top: Sehen Sie Versäumnisse seitens der Politik?
Federle: Zum Teil schon. Problematisch war vor allem, dass es keine einheitlichen Regeln und keine klaren Vorgaben gab. Und genau das ist in einer Krisensituation unverzichtbar. Der Bürokratiewahn in Deutschland war ein großer Hemmschuh für zahlreiche Maßnahmen, die zur Eindämmung der Pandemie dringend notwendig gewesen wären. Einer der größten Fehler der Politik war meiner Meinung nach, dass sie anfangs überhaupt nicht auf die Praktiker gehört hat. Die Virologen sehen Covid-19 nur aus ihrer Perspektive und wissen gar nicht, wie es zum Beispiel in den Heimen zugeht. Erst als ich im Februar 2021 als Referentin bei der Bundespressekonferenz neben Jens Spahn und Lothar Wieler mit von der Partie war, hat die Politik verstärkt auch die Meinung von Medizinern eingeholt, die quasi an der Front arbeiten.
2020 erhielt Lisa Federle das Bundesverdienstkreuz
top: Wäre das auch im Hinblick aufs Impfen sinnvoll?
Federle: Unbedingt. Selbstverständlich kann man versuchen, die Menschen zu zwingen, sich impfen zu lassen, indem man sie andernfalls von der Teilhabe an einzelnen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ausschließt. Doch damit würde es sich der Staat zu einfach machen. Schließlich gibt es eine nicht unbeträchtliche Zahl an Menschen, die vor der Impfung aufgrund möglicher Nebenwirkungen mehr Angst haben als vor der Erkrankung. Das muss man akzeptieren und man darf sie deshalb nicht einfach als Impfgegner oder Querdenker abtun. Es gibt auch Menschen, die Angst vor der Röhre haben. Die steckt man dann auch nicht einfach da hinein. In meiner jahrelangen täglichen Praxis im Nachtdienst sowie als Notärztin hatte ich immer wieder mit Personen zu tun, die aus Angst den Arzt gerufen haben – ob aufgrund von Depressionen oder aus Panik, weil der Blutdruck ein wenig gestiegen ist. Diese Menschen leben nun seit über eineinhalb Jahren wegen Corona noch mehr in Angst. Und für die muss man sich einfach Zeit nehmen und sich in sie hineinversetzen. Das kann ein Hausarzt in der Regel nicht einfach so nebenher machen. Diese zeitintensive Aufgabe kann außerdem nur jemand übernehmen, der sich sowohl in der Corona-Materie auskennt als auch mit Angstpatienten umzugehen weiß.
Der Staat steht für mich in diesem Punkt unbedingt in der Aufklärungspflicht. Denn wenn wir die Menschen, die Angst vor der Impfung haben, jetzt auch noch von der Gesellschaft ausschließen, dann sehe ich die Gefahr, dass die Rate der Suizide oder Depressionen massiv ansteigt. Komplikationen kann es zwar immer geben, aber ich habe seit Ausbruch der Pandemie so viel menschliches Leid erlebt, dass ich nur dazu raten kann, die Impfung vornehmen zu lassen.
Als Gast in vielen Talkshows war Lisa Federle gerne gesehen
top: Corona ist seit eineinhalb Jahren in den Medien dauerpräsent. Hat die Berichterstattung das Bewusstsein hinsichtlich der Gefährlichkeit des Virus gefördert oder mitunter auch zu Hysterie geführt?
Federle: Die durch Corona ausgelösten Reaktionen waren teilweise sehr extrem. Die einen haben sich daheim förmlich verbarrikadiert und das Haus kaum noch verlassen, die anderen haben Covid-19 als Erfindung einer böswilligen Regierung bezeichnet. Beide Haltungen sind ungesund und können die Gesellschaft auf gefährliche Weise spalten. Wer sich nicht mehr bewegt, keinen Sport mehr treibt, die Krankengymnastin oder den Physiotherapeuten nicht mehr kommen lässt oder nicht mehr zur Krebsvorsorge geht, bekommt irgendwann andere gesundheitliche Schäden. Wir müssen lernen, mit dem Virus richtig umzugehen und mit ihm zu leben, denn Corona und seine Mutanten werden uns sicherlich noch eine Weile begleiten. Wir müssen also weiterhin vorsichtig sein und die Schutzmaßnahmen aufrechterhalten. Dessen ungeachtet darf man sein Leben auch nicht komplett einschränken – und das Leben von Kindern schon gar nicht.
Gründung der Vereins #BewegtEuch mit Schauspieler Jan Josef Liefers, Notärztin Lisa Federle und Fernsehmoderator Michael Antwerpes
Bild: Ulrich Metz, Schwäbisches Tagblatt
top: Wie sollte man aus Ihrer Sicht mit der Impfung von Kindern umgehen?
Federle: Nachdem sich mittlerweile die Ständige Impfkommission – das sind für mich im Gegensatz zur Regierung die Experten – für die Impfung von Kindern ausgesprochen hat, befürworte und empfehle auch ich sie. Wie schon erwähnt, erachte ich es für ganz entscheidend, dass solche Entscheidungen nicht von der Politik, sondern von Leuten getroffen werden, die etwas davon verstehen.
top: Virologen wie zum Beispiel Prof. Klaus Stöhr prognostizieren für den Herbst eine heftige 4. Welle. Wie bewerten Sie die Lage?
Federle: Ich bin mir sicher, dass es eine 4. Welle geben wird. Umso wichtiger ist es, dass sich die Menschen – auch die Geimpften – weiterhin regelmäßig testen lassen. Die Schnelltests sollten aus meiner Sicht auch zukünftig kostenlos sein, denn wir brauchen den größtmöglichen Überblick über das Pandemiegeschehen. Lediglich Impfgegner müssten aus meiner Sicht für Coronatests bezahlen, für Impfgegner würde ich außerdem PCR-Tests fordern. Denn sie gefährden durch ihre Verweigerungshaltung nicht nur sich selbst, sondern vor allem auch andere Menschen, denen sie
begegnen beziehungsweise mit denen sie zu tun haben.
top: Hat Corona unsere Gesellschaft verändert? Gibt es einen größeren Zusammenhalt oder ist der Egoismus noch größer geworden?
Federle: Insgesamt sehe ich die Entwicklung durchaus positiv – wenn ich nur daran denke, welche Unterstützung meine Testinitiative in Tübingen erfahren hat. Oder welchen Zulauf der von mir zusammen mit dem Schauspieler Jan Josef Liefers, mit dem ich schon seit vielen Jahren befreundet bin, und dem Fernsehmoderator Michael Antwerpes gegründete Verein #BewegtEuch zur Förderung sportlicher Aktivitäten von Kindern erlebt. Auch wenn Corona in Teilen zu einer Spaltung der Gesellschaft geführt hat, ist meiner Meinung nach ein großes Verständnis füreinander da. Was mir allerdings Sorgen bereitet und uns in den nächsten Jahren noch schmerzhaft einholen wird, sind die gewaltigen Schulden, die wir unseren Kindern hinterlassen. Dieses Ausmaß haben wir alle noch gar nicht erfasst. Die Konsequenzen daraus resultierender Einsparungen auf allen Ebenen werden in erster Linie die sozial Schwächeren zu spüren bekommen. Und denen tut es am
meisten weh.
Lisa Federle im Gespräch mit dem top magazin-team
1961 in Tübingen geboren, besuchte Lisa Federle dort zunächst das Wildermuth-Gymnasium, brach aber dann die Schule vorzeitig ab und arbeitete zunächst in der Gastronomie. 1986 machte sie am Abendgymnasium das Abitur nach und begann im Anschluss an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen ein Medizinstudium, das sie 1998 mit der Promotion abschloss. Die Mutter von vier Kindern betreibt in Tübingen eine privatärztliche Hausarztpraxis, seit 2001 arbeitet sie außerdem als Notfallmedizinerin und seit 2004 als leitende Notärztin. 2015 entwickelte Lisa Federle eine „rollende Arztpraxis“, damit Geflüchtete in ihren Notunterkünften, aber auch Obdachlose medizinisch versorgt werden können. Finanziell unterstützt wurde sie dabei mit Spenden unter anderem auch von Til Schweiger – die Stiftung des Schauspielers steuerte zum Umbau und zur medizinischen Ausstattung des Wohnmobils einen hohen Geldbetrag bei. Mit Beginn der Corona-Pandemie wurde die rollende Arztpraxis zur mobilen Teststelle. Mit der von ihr frühzeitig initiierten Teststrategie für den Raum Tübingen leistete Lisa Federle einen entscheidenden Beitrag zum Tübinger Modell zur zielgerichteten Pandemie-Bekämpfung. 2020 wurde sie für ihr Engagement von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Die heute 60-Jährige ist stellvertretende Vorsitzende der Kreisärzteschaft, Kreisvorsitzende des DRK in Tübingen sowie Pandemie-Beauftragte des Landkreises. Darüber hinaus engagiert sich Lisa Federle politisch als Mitglied der CDU und hat seit 2009 einen Sitz im Kreisrat.