Gesundheit & Schönheit

Suchtgefahr 24/7 im Netz

Ob Tablet, Smartphone oder PC: Digitale Medien sind aus unserem Alltag kaum noch wegzudenken. Neueste Zahlen belegen, dass während der Coronapandemie zum Beispiel Kinder und Jugendliche 75 Prozent mehr mit dem Smartphone oder PC als vor der Krise spielen, um ihre Langeweile zu bekämpfen oder sich abzulenken. Dabei wird die Grenze zum gesunden Umgang mit digitalen Medien zunehmend überschritten. Handy- respektive Mediensucht ist aber auch ein Problem vieler Erwachsener. Digitale Entgiftung und verbindliche Regeln für den Medienkonsum erscheinen daher umso wichtiger.


Mal eben kurz die News checken, im Gruppen-Chat eine Nachricht schreiben, einen Beitrag in den sozialen Kanälen posten, eine Serie auf Netflix & Co. anschauen, die Zeitung lesen: Die digitalen Medien sind zu einem bestimmenden Faktor unseres Lebens geworden. Durch Homeoffice und Homeschooling in Pandemiezeiten verbringen die Menschen noch mehr Zeit am Smartphone und PC. Insbesondere das Handy lässt viele Menschen auch im Straßenverkehr nicht mehr los – mitunter gedankenverloren fahren sie mit dem Auto oder gehen zu Fuß und bringen sich sowie andere Verkehrsteilnehmer in Lebensgefahr. Doch das ist ein ganz eigenes Thema rund um die Nutzung digitaler Medien.

Laut der Anfang Mai 2021 präsentierten bevölkerungsrepräsentativen Studie „Die Süchte der Deutschen“ der pronova BKK kann sich die Hälfte der Deutschen ein Leben ohne Smartphone schlicht nicht mehr vorstellen. Fast jeden Dritten befällt Panik, wenn das Smartphone gerade nicht zur Hand ist. 43 Prozent erwischen sich dabei, wie sie nach einer gewissen Zeit automatisch auf das Smartphone schauen. Wie 41 Prozent berichten, gilt morgens der erste Blick dem Handy und abends der letzte. 31 Prozent der Befragten insgesamt und 74 Prozent der 18- bis 29-Jährigen gestehen, dass sie ihr Smartphone sogar häufig mit aufs Klo nehmen. Für die Befragung wurden im Januar 2021 im Auftrag der pronova BKK bundesweit 1.000 Personen ab 18 Jahren bevölkerungsrepräsentativ nach Geschlecht, Alter und Bundesland online befragt.

 

Abhängigkeit mit gesundheitlichen Folgen

 

Die häufige Nutzung von Smartphone und Co. kann schnell zur Abhängigkeit oder sogar Sucht führen, die Grenzen sind dabei fließend. Grundsätzlich bezeichnet der Begriff Sucht nicht nur Abhängigkeitserkrankungen im Allgemeinen, sondern vielmehr die Gesamtheit von riskanten, missbräuchlichen und abhängigen Verhaltensweisen in Bezug auf legale wie illegale Suchtmittel sowie nichtstoffgebundene Verhaltensweisen wie Glücksspiel und pathologischer Internetgebrauch. Obgleich Handysucht keine offiziell anerkannte Krankheit ist, können die kleinen Apparate durchaus ein suchtähnliches, pathogenes Verhalten fördern. Dazu gehört zum Beispiel der Drang, ständig nach dem Handy zu greifen, um nach eventuellen News zu schauen oder Whatsapp-Nachrichten zu schreiben. Auch körperliche Auswirkungen wie Unruhe, Konzentrationsstörungen, Nervosität oder gar Schweißausbrüche, wenn man sein Smartphone nicht nutzen kann, sind deutliche Alarmzeichen. In gleichem Maße gilt dies außerdem für erfolglose Einschränkungsversuche der Handynutzung, das sinkende Interesse an anderen Freizeitaktivitäten oder Versuche, die Nutzung vor anderen zu verheimlichen.

Dabei hat „always on“ auch in gesundheitlicher Hinsicht seinen Preis. So zeigt zum Beispiel die im Februar 2021 vorgestellte Studie „Schalt mal ab, Deutschland!“ der Techniker Krankenkasse (TK) einen deutlichen Zusammenhang zwischen Internetkonsum und körperlichen und vor allem psychischen Problemen. Danach leiden Viel-Surfer (fünf Stunden am Tag und mehr) deutlich häufiger unter Nervosität beziehungsweise Gereiztheit (38 Prozent) oder sogar Depressionen (40 Prozent). Bei den Wenig-Nutzern (unter einer Stunde am Tag) sind die Zahlen mit 19 und 16 Prozent wesentlich niedriger. Muskelverspannungen wie zum Beispiel Nacken- oder Rückenschmerzen sind bei einem Großteil aller Befragten ein Problem (62 Prozent). Die Nutzer von Onlineangeboten, die in der Regel viel Zeit in Anspruch nehmen, sind allerdings auffällig häufiger betroffen. So gaben 77 Prozent der Online-Gamer an, häufiger oder sogar dauerhaft unter Rückenschmerzen und anderen Beschwerden zu leiden.

„Viele Online-Angebote sind so konzipiert, dass sie die Menschen möglichst lange an den Bildschirm fesseln“, gibt Dr. Ines Sura, Professorin für Medienpädagogik und Medienbildung an der Universität Greifswald, zu bedenken. Diesem Mechanismus gelte es bewusst gewählte Rituale entgegenzusetzen. Beispielsweise durch feste Zeiten zum Abruf von E-Mails und Nachrichten oder das medienfreie Schlafzimmer. „Jede Aktion auf dem Smartphone erreicht unser Belohnungssystem im Gehirn und verleitet somit dazu, länger online zu sein als geplant“, so die Medienexpertin.

 

Medienkompetenz von Beginn an fördern

 

„Medien- und Internetabhängigkeit ist quasi die Droge der Zukunft“, sagt Daniela Ludwig, Drogenbeauftragte der Bundesregierung. Vor allem würden auch immer mehr Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene die digitalen Medien mehr nutzen als ihnen guttut. Die Digitalisierung sei zwar insgesamt ein wertvolles Gut, während Corona sogar mehr denn je. Allerdings müssten junge Menschen wissen, wann sie auch mal „offline“ sein sollten. Nach Ansicht von Daniela Ludwig gilt es, die Medienkompetenz und den bewussten Umgang mit Smartphone und Co. gerade von Kindern und Jugendlichen zu stärken. Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung und der Berufsverband der Deutschen Kinder- und Jugendärzte haben deshalb mehr als 6.000 Kinderarztpraxen in ganz Deutschland mit umfangreichen Informationsmaterialien zum Thema gesunde Mediennutzung ausgestattet. Verschickt wurden über 12.000 Plakate sowie mehrere tausend Flyer und Leporellos der gemeinsamen Kampagne „Familie.Freunde.Follower“. Darin enthalten sind über 20 wertvolle Tipps, wie ein gesunder Umgang mit digitalen Medien ganz einfach gelingen kann.

Tatsache ist: Nach wie vor herrscht ein großer Informationsbedarf bei den Eltern, denn gerade während der Pandemie ist die Mediennutzung insgesamt massiv gestiegen. Das verdeutlichen aktuelle Zwischenergebnisse einer gemeinsamen Längsschnittstudie der DAK-Gesundheit und des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) zur Mediensucht. Diese untersuchte in bundesweit 1.200 Familien die digitale Mediennutzung von Kindern, Jugendlichen und deren Eltern. Nach den Befragungen im September 2019, im April 2020 und im November 2020 wurde die Studie mit einer vierten Befragungswelle im April 2021 abgeschlossen. Die Ergebnisse werden im Sommer erwartet. Die Studie, die Zusammenhänge zwischen Nutzungsmustern, Nutzungsmotiven und familiären Nutzungsregeln über den Verlauf der Pandemie hinweg untersucht, ist in Deutschland einmalig.

Immerhin gingen nach Rekordwerten während des ersten Lockdowns im April 2020 die Gaming-Zeiten bei Kindern und Jugendlichen im Herbst 2020 wieder deutlich zurück: Sie spielten werktags durchschnittlich nur noch 115 Minuten Online-Games – ein Rückgang von 15 Prozent. Im September 2019 lagen die Nutzungszeiten werktags noch bei 83 Minuten. Auch bei den Sozialen Medien reduzierten sich die Nutzungszeiten in der Woche um fast ein Drittel. Dennoch verbringen Kinder und Jugendliche nach wie vor mehr Zeit vor dem Bildschirm als vor der Corona-Pandemie. Dabei zeigt sich bei den sozialen Medien jedoch ein deutlicher Geschlechterunterschied: Während sich Jungen im November 2020 zumindest an den Wochenenden wieder dem Nutzungsniveau vor der Pandemie annäherten (186 Minuten versus 184 Minuten), reduzierten Mädchen ihren Social-Media-Gebrauch nur marginal. Er ist an einem normalen Wochenende mit 224 Minuten immer noch auf ähnlichem Niveau wie im April 2020 (243 Minuten) und damit deutlich höher als bei den Jungen und als vor der Pandemie (186 Minuten). Auch in den Altersgruppen gibt es Unterschiede: Jungen zwischen 15 und 18 Jahren spielten im Herbst 2020 werktags mit 161 Minuten durchschnittlich knapp eine Stunde länger Computer als die 11- bis 14-Jährigen (102 Minuten). An Wochenenden waren es sogar knapp eineinhalb Stunden mehr.

Beratung und Information für einen bewussteren Medienkonsum

Wenn sich Eltern über die Mediennutzung ihrer Kinder Sorgen machen oder bei Jugendlichen selbst Zweifel im Hinblick auf ihre persönliche Nutzung von Smartphone und Co. aufkommen, kann es hilfreich sein, entsprechende Beratungen in Anspruch zu nehmen. Eine Anlaufstelle in Stuttgart ist zum Beispiel der bereits 1971 gegründete Verein Release Stuttgart e.V. und hier speziell das 2011 ins Leben gerufene Beratungs- und Suchtpräventionsangebot „Release Netzpause“. Das Angebot ist kostenlos, kann aber aufgrund der kommunalen Förderung durch die Stadt nur von Personen, Schulen und Einrichtungen aus Stuttgart genutzt werden.

„Wir erfahren einen immer stärkeren Zulauf“, berichtet der Sozialpädadoge Philipp Weber, Dienststellenleiter von Release. In Corona-Zeiten sei der Beratungsbedarf nochmals deutlich gestiegen. Unter anderem auch deshalb, weil die Pandemie die persönlichen Kontakte und Freizeitaktivitäten von Kindern und Jugendlichen stark eingeschränkt habe. „Die mitunter kategorisch getroffene Unterscheidung zwischen ‚guter‘ Medienzeit fürs Homeschooling und ‚schlechter‘ Medienzeit fürs Chatten hat in vielen Familien zu teilweise schweren Konflikten geführt“, bilanziert Philipp Weber seine Erfahrungen. Erst recht, wenn es über Jahre versäumt wurde, klare Regeln für den Medienkonsum aufzustellen. Doch dafür sei es nie zu spät. Vor allem müssten die Regeln dann nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Eltern als wichtige Vorbilder gelten.

 

Digital Detox: JOMO statt FOMO

 

Ständig „on“ zu sein und Angst davor zu haben, etwas zu verpassen, wird gerne mit dem Begriff der FOMO (Fear Of Missing Out) umschrieben. Doch darauf gibt es in Form der JOMO (Joy Of Missing Out), also der Freude am Verpassen, eine gute Entschleunigungsantwort. Die digitale Entgiftung gelingt aber nur dann so richtig, wenn man sich in einem ersten Schritt die persönliche Smartphone-Nutzung vor Augen führt. Soll heißen: Man muss sich ganz kompromisslos bewusst machen, wie oft und wie lange welche Apps genutzt werden. Hierfür gibt es auf den meisten Handys ein eigenes Tool, das zum Beispiel unter der Bezeichnung „Digitales Wohlbefinden“ aufzeichnet, wie lange und wo man den Tag über online war. Das kann im ersten Moment erschreckend sein, hilft aber bei der Selbsterkenntnis.

Ein weiterer wichtiger Schritt ist die Herausfilterung möglicherweise „suchtgefährdender“ Anwendungen. Dazu zählen insbesondere die sozialen Netzwerke sowie Dating- oder Spiele-Apps der Fall. Derartige Apps gänzlich vom Handy zu verbannen, wäre selbstverständlich eine Möglichkeit. Hilfreich kann es aber auch sein, deren Nutzung auf einen bestimmten Zeitraum am Tag zu begrenzen, Push-Benachrichtigungen zu deaktivieren und vor allem nicht auf jede eingehende Nachricht umgehend zu reagieren. Das erzeugt unnötigen Stress. Wem dies schwer fällt, der stellt einfach den Flugmodus beziehungsweise die Offline-Funktion ein. Für viele digitale Anwendungen wie Kalender, Wecker oder Routenplaner gibt es darüber hinaus bestens funktionierende analoge Alternativen.

Für das Smartphone einen bestimmten Ablageplatz festzulegen und es nicht ständig mit sich herumzutragen, wirkt ebenfalls Wunder. Wichtig ist außerdem, das Smartphone aus bestimmten Bereichen im Haus oder der Wohnung wie etwa dem Schlafzimmer gänzlich zu verbannen. Vor dem Einschlafen nicht mehr aufs Display zu schauen, sorgt für einen entspannten Kopf und eine erholsame Nachtruhe.

Medienkonsum von Kindern

 

Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung empfiehlt Eltern:

  • Vereinbaren Sie mit Ihrem Kind verbindlich Zeiten für die Nutzung digitaler Medien.
  • Interessieren Sie sich für die digitalen Aktivitäten Ihrer Kinder: Lassen Sie sich davon berichten, nehmen Sie Anteil oder spielen Sie gegebenenfalls mit.
  • Seien Sie authentisch und halten Sie sich auch selbst an vereinbarte Zeiten.
  • Planen Sie gemeinsame Aktivitäten: Das können Gesellschaftsspiele, sportliche Aktivitäten, Ausflüge oder Spaziergänge sein. Was immer der Familie zusammen Spaß macht: Bei diesen Aktivitäten sollten digitale Medien für alle tabu sein.
  • Auch beim gemeinsamen Essen und während einer Unterhaltung sollten digitale Medien Pause haben. Schenken Sie Ihrem Kind – als wertvolles Geschenk – Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.
Artikel von www.top-magazin.de/stuttgart