Gesundheit & Schönheit

„Das Ausrufen von Feinstaubalarm ist eine Volksverdummung“


 

Das Umweltbundesamt spricht von 6.000 vorzeitigen Todesfällen allein in Deutschland durch zu hohe Stickoxid-Belastungen, Stuttgart ruft seit 2016 regelmäßig den Feinstaubalarm aus, immer mehr Großstädte werden von den Verwaltungsgerichten zu Fahrverboten für Diesel-Pkw bis zur Euronorm 5 verdonnert, bei den Autohändlern stapeln sich die Gebrauchtfahrzeuge, die Händler wie auch die Autobesitzer erleiden enorme Wertverluste: Unter anderem durch die Klagewelle der Deutschen Umwelthilfe wurde in den letzten Monaten eine kaum mehr zu stoppende Lawine losgetreten. Aber sind die vielen vorgebrachten Argumente gegen den „dreckigen“ Diesel als Verursacher „verpesteter“ Luft überhaupt gerechtfertigt?

Und haben die von der EU schon vor Jahren festgesetzten Grenzwerte für Luftschadstoffe überhaupt eine wissenschaftlich fundierte Basis? Über Fragen wie diese sprachen wir mit Prof. Dr. med. Martin Hetzel, Chefarzt der Klinik für Pneumologie, Internistische Intensivmedizin, Beatmungsmedizin und Allgemeine Innere Medizin am Krankenhaus vom Roten Kreuz (RKK) in Stuttgart.

 

top: Herr Prof. Hetzel, als renommierter Lungenfacharzt dürfte das Thema Feinstaub für Sie doch sicherlich von höchster Brisanz sein. Wie oft sind Sie denn in letzter Zeit für Interviews angefragt worden?

Hetzel: Ich habe mich zu diesem Thema auf diverse Anfragen hin schon mehrfach geäußert – erstmals übrigens, als in Stuttgart der Feinstaubalarm seine Premiere feierte. Der Anlass hierfür war sehr konkret. Denn zu diesem Zeitpunkt erreichten unsere bundesweit anerkannte Klinik für Lungenheilkunde zahlreiche Absagen von Patienten, die sagten, zur bereits vereinbarten stationären Behandlung nicht nach Stuttgart zu kommen zu wollen, weil hier Feinstaubalarm herrsche. Alarm ist ein Zustand, der eigentlich nur bei akuter und großer Not ausgerufen wird. Insofern sah ich mich doch gezwungen, zu diesem Thema Stellung zu beziehen.

 

top: Welche Erkenntnisse haben Sie aus Ihrer Beschäftigung mit dieser Thematik gewonnen?

Hetzel: Es geht zunächst einmal um die Frage der Plausibilität, inwieweit Feinstaub und Stickoxide im legislativen Grenzwertbereich gesundheitsschädlich sind. Die EU-Richtlinie 2008/50 hat für Feinstaub der Partikelgröße PM10, also für Staubteilchen mit einem Durchmesser von weniger als zehn Mikrometern, einen maximalen Tagesmittelwert von 50 Mikrogramm pro Kubikmeter festgelegt und 35 Überschreitungstage im Kalenderjahr für zulässig erklärt.

Der Grenzwert für NO2 in der Außenluft beträgt im Jahresmittel 40 Mikrogramm pro Kubikmeter, erlaubt sind laut besagter Richtlinie 18 Überschreitungen von 200 Mikrogramm pro Kubikmeter. In diesen legislativen Vorgaben sehe ich das Kernproblem der aktuell teilweise sehr verbohrt, unwissenschaftlich und ideologiebelastet geführten Diskussion.

 

top: Wie ist der Stand der Dinge in Stuttgart?

Hetzel: Die Zahlen des Amtes für Umweltschutz in Stuttgart ebenso wie der Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg zeigen ganz deutlich, dass die Werte an ganz zentralen Stellen in Stuttgart seit Jahren massiv nach unten gehen. So sind zum Beispiel beim Schwabenzentrum an der B14 die Jahresmittelwerte für NO2 zwischen 1987 und 2017 von 60 auf 28 Mikrogramm pro Kubikmeter und für Feinstaub der Partikelgröße PM10 im gleichen Zeitraum von 41 auf 17 Mikrogramm pro Kubikmeter gesunken. Zweifelsohne hat zur Feinstaubreduktion der Partikelfilter beigetragen. Grenzwertüberschreitungen gab es in den letzten Jahren nur an einer Messstation – dem Neckartor. Aber auch hier sinken die Werte. Insofern ist der von der Stadt Stuttgart im Jahr 2016 ausgerufene Feinstaubalarm ein Anachronismus, der sich an Hand der Zahlen nicht nachvollziehen lässt. Denn die Gesamtbilanz für Stuttgart sieht positiv aus. Dessen ungeachtet spricht alle Welt von der verpesteten Luft in der Schwabenmetropole.

Das gilt auch für seriöse Nachrichtensendungen wie das „heute journal“ oder die „Tagesthemen“. Und was dort gesagt wird, glauben die Menschen. Tatsache ist außerdem, dass Diesel-Pkw gerade mal zu einem Drittel zu dem auf den Straßenverkehr entfallenden Anteil von 20 Prozent an den gesamten PM10-Feinstaubemissionen in Deutschland beitragen. Fahrverbote für alle Diesel-Pkw würden die PM10-Feinstaubbelastung um maximal sieben Prozent senken. Auch bei intentionaler Begründung halte ich den Feinstaubalarm für völlig irrational. Das ist eine Verdummung der Bevölkerung, mit dem Begriff „Alarm“ wird in diesem Fall grob fahrlässig umgegangen. Denn eine akute Gefahr geht von der aktuellen Feinstaubbelastung in der Luft in Stuttgart nicht aus. Das Aussenden anders lautender Botschaften, die ich als „Fake News“ bezeichne, schadet dem Ansehen der Stadt Stuttgart wie auch der gesamten Region in hohem Maße.

 

top: Ist Feinstaub im Grenzwertbereich nun gesundheitsschädlich?

Hetzel: Lassen Sie mich hierzu erst noch ein paar Vergleichszahlen anführen: In zahlreichen Metropolen Chinas hat man es mit Feinstaubbelastungen zwischen 200 bis 400 Mikrogramm pro Kubikmeter zu tun, im Bergbau liegen die Feinstaubbelastungen bei zwei bis vier Gramm pro Kubikmeter, im Zigarettenrauch sogar bei 500 bis 1.000 Gramm pro Kubikmeter Atemluft. Das ist das Zehnmillionenfache des von der EU in der EU-Luftqualitätsrichtlinie gesetzlich festgelegten Grenzwerts.

Wenn also von den Feinstaubbelastungen im Straßenverkehr jährlich zigtausend Menschen in Deutschland sterben würden, müsste jeder Raucher mit einem täglichen Konsum von 20 Zigaretten nach ein paar Monaten tot umfallen. Auch als Passivraucher ist man gefährdet. Wer sich in der Nähe einer Raucherinsel am Stuttgarter Hauptbahnhof aufhält, ist einer zigfach höheren Feinstaubbelastung ausgesetzt als die Bewohnerinnen und Bewohner am Neckartor. Wer in Innenräumen Kerzen anzündet oder einen Gasherd betreibt, überschreitet schnell die legislativen Grenzwerte für NOx um ein Vielfaches.

In anerkannten Lehrbüchern der Lungenheilkunde ist nachzulesen, dass regelmäßiges Passivrauchen das vorzeitige Sterberisiko in einem bestimmten Zeitraum um 30 Prozent erhöht, Rauchen sogar um 800 Prozent und Bluthochdruck um 1.000 Prozent. Bei regelmäßiger Exposition von Feinstaub der Partikelgröße PM10 im legislativen Grenzwertbereich erhöht sich das Sterberisiko dagegen gerade mal um 0,6 Prozent.

 

top: Woher stammen die publizierten Horrorzahlen von Todesfällen durch Feinstaub und NOx?

Hetzel: Sie entstammen unseriösen Interpretationen von Korrelationsanalysen bezüglich Tod durch Lungen- oder Herzerkrankungen. Vereinfacht ausgedrückt werden Todesfälle in der hauptstraßennahen Bevölkerung und Todesfälle der im ländlichen Hintergrund lebenden Bevölkerung in Bezug zu den unterschiedlichen gemessenen Luftschadstoffkonzentrationen an diesen Orten gesetzt. Störgrößen wie Tabakkonsum oder mangelnde körperliche Aktivität wurden hingegen nicht gemessen, sondern bestenfalls geschätzt oder erfragt. Diese dem Lebensstil geschuldeten stark wirksamen Störgrößen, für die nicht angemessen adjustiert wurde, erklären die Studienergebnisse hinreichend. Das bleibt bei der Interpretation unberücksichtigt. Und kam heraus, dass Feinstaub Todesfälle verhindert oder NOx unschädlich ist, dann fiel es unter den Tisch. Ein ganz krasser methodischer Mangel der grenzwertbegründenden Untersuchungen ist, dass in den Ergebnisinterpretationen von Korrelation auf Kausalität geschlossen wurde.

 

top: Erstaunlich ist ja auch, dass die Arbeitsmedizin mit ganz anderen Grenzwerten hantiert.

Hetzel: Absolut richtig. Im Bergbau beispielsweise kann Feinstaub bei jahre- und jahrzehntelanger Exposition zu einer chronisch obstruktiven Bronchitis führen. Als anerkannte Berufskrankheit gilt diese Bronchitis aber erst beim Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Dosis von in der Regel 100 Feinstaubjahren Die kumulative Feinstaubdosis errechnet sich aus der Feinstaubkonzentration in der Luft am Arbeitsplatz in Mikrogramm pro Kubikmeter Luft, multipliziert mit der Anzahl der Expositionsjahre, bezogen auf 220 gefahrene Jahresschichten zu je acht Stunden.

Überträgt man dies nun auf den Straßenverkehr und unterstellt eine „Neckartor“-Feinstaubbelastung von 25 Mikrogramm pro Kubikmeter, würde man es nach den genannten arbeitsrechtlichen Kriterien in 100 Lebensjahren gerade mal auf 12,4 Feinstaubjahre bringen – aber nur dann, wenn jemand kontinuierlich an der Neckartor-Messstelle lebt. Man kommt also selbst hier bei 365Tagen im Jahr ein Leben lang nicht annähernd in den Belastungsbereich, dem die Arbeitsmedizin Ursächlichkeit für eine Berufskrankheit zubilligen würde.

 

top: Wie begründbar sind denn aus medizinischer Sicht Fahrverbote, wenn man die Stickoxidbelastungen als Grundlage heranzieht?

Hetzel: Auch das entbehrt meiner Ansicht nach jeglicher Plausibilität. Nochmals zur Erinnerung: Der Grenzwert in der Außenluft liegt laut EU-Richtlinie bei 40 Mikrogramm pro Kubikmeter. Der Maximalwert in Deutschland wurde bislang in München auf dem Mittleren Ring mit 78 Mikrogramm pro Kubikmeter gemessen. In den USA beträgt dieser Grenzwert 103 Mikrogramm pro Kubikmeter. Würde dieser Grenzwert auch in der EU gelten, hätten wir an keiner Messstelle ein Problem.

Viel interessanter ist aber noch etwas ganz anderes: Der NO2-Arbeitsplatzgrenzwert in Deutschland in Industrie und Handwerk wurde auf 950 Mikrogramm pro Kubikmeter festgelegt – fünf Tage die Woche und acht Stunden am Tag kann den Menschen diese Menge an Stickoxid zugemutet werden. Das besagen die Technischen Regeln für Gefahrenstoffe nach den Vorschlägen der mit Wissenschaftlern besetzten Kommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe. In der Schweiz beträgt dieser Arbeitsplatzgrenzwert sogar 6.000 Mikrogramm pro Kubikmeter. Nach Angaben der Deutschen Forschungsgemeinschaft waren in Tierversuchen mit rund 4.000 Mikrogramm NO2 pro Kubikmeter keine Effekte feststellbar.

Auch PM 10 in Stuttgart sorgfältige Laborstudien mit Freiwilligen und Erfahrungen von Menschen, die im Steinkohlebergbau arbeiten, zeigen bis 950 Mikrogramm keine klaren Effekte. Insofern kann ich mich nur der Meinung von Prof. Dr. med. Dieter Köhler anschließen: Der ehemalige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie erklärte, dass die offiziellen Gesundheitsstudien zu Feinstaub und Stickoxiden eine der größten Seifenblasen sind, die es gibt. Und nach Ansicht von Prof. Dr. med. Hans Drexler, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Arbeits- und Umweltmedizin, ist es wissenschaftlich unseriös, durch Berechnungen von Stickoxiden auf Tote zu schließen. Der menschliche Organismus hat natürliche Schutzmechanismen, die in der Lage sind, mit Schadstoffbelastungen, wie sie bei uns vorliegen, problemlos umzugehen. Sonst wäre unsere Lebenserwartung in den letzten Jahrzehnten nicht so angestiegen, wie das der Fall ist.

 

top: Setzen sich die Verwaltungsgerichte nicht mit diesen Fakten auseinander?

Hetzel: Nein, die Gerichte urteilen darüber, ob Gesetze eingehalten werden oder nicht. Das Recht schützt auch schlechte Gesetze. Die Sinnhaftigkeit eines Gesetzes wird nicht hinterfragt. Ist das Gesetz schlecht, werden die Durchführungsbestimmungen nicht besser.

 

top: Es wird also wider besseres Wissen eine ganze Industrie an die Wand gefahren?

Hetzel: Das muss man leider so sagen. Was die Deutsche Umwelthilfe hier betreibt, ist Lobbyismus in eigener Sache und hat keinen belastbaren wissenschaftlichen Sachgrund. Da das Thema aber sehr populär und – unter anderem auch wegen des offensichtlichen Betrugs seitens der Autoindustrie – mehrheitsfähig ist, lassen sich die Politiker vor deren Karren spannen. Denn in diesem Punkt mit einer Minderheitenmeinung auf Stimmenfang zu gehen, ist für Politiker kontraproduktiv.

Schließlich wollen sie ja die Menschen für sich gewinnen. Daraus resultieren dann auch irrationale Aktionen wie etwa das Aufstellen einer Mooswand an der B14 beim Neckartor. Dass dadurch der Feinstaub reduziert werden soll, ist mit gesundem Menschenverstand nicht zu erklären. Wenn ich das nicht persönlich gesehen hätte, würde ich es in einem Buch von Thaddäus Troll verorten.

 

top: Was würden Sie der Politik raten?

Hetzel: Es würde Sinn machen, eine Sachverständigenkommission einzuberufen und mit kritischem Rationalismus die wissenschaftliche Erkenntnislage entideologisiert zu bewerten und danach zu handeln: Die Grenzwerte müssen der Erkenntnislage nach angehoben werden.

 

Zur Person

Nach dem Studium der Humanmedizin an den Universitäten Heidelberg und Ulm sowie der Promotion an der Universität Ulm über das Thema „Therapie der chronischen Herzinsuffizienz“ war Dr. med. Martin Hetzel von 1993 bis 2005 am Universitätsklinikum Ulm tätig – unter anderem als Oberarzt und Leiter des Fachbereichs Pneumologie sowie als Leiter der pneumologisch-onkologischen Tagesklinik. Nach der Habilitation wurde er Leiter der neu gegründeten Sektion Pneumologie der Medizinischen Klinik des Universitätsklinikums Ulm, bevor im Herbst 2005 die Ernennung zum Chefarzt der Klinik für Pneumologie, Internistische Intensivmedizin, Beatmungsmedizin und Allgemeine Innere Medizin am Krankenhaus vom Roten Kreuz (RKK) in Stuttgart erfolgte.

Seit 2010 ist der in Mühlacker geborene Facharzt für Innere Medizin, Pneumologie, Kardiologie, Spezielle Internistische Intensivmedizin und Schlafmedizin außerdem in rotierender Funktion Leiter und stellvertretender Leiter des zertifizierten Lungenkrebszentrums Esslingen-Stuttgart (TESS) und seit 2011 Leiter des zertifizierten Weaning-Zentrums am RKK. 2012 wurde der Vater von zwei Kindern außerdem zum Ärztlichen Direktor des RKK ernannt. Von 2010 bis 2018 war Prof. Martin Hetzel Vorstandsmitglied im Berufsverband der Pneumologen in Baden Württemberg, seit 2014 ist er Geschäftsführer des Verbandes Pneumologischer Kliniken.

 

Artikel von www.top-magazin.de/stuttgart