Was für eine Treue: Seit 1984 ist die in den USA geborene Helene Schneiderman Mitglied des Stuttgarter Opernensembles. Ihre Karriere als Mezzosopran reicht freilich weit über die Schwabenmetropole hinaus – bis heute ist sie regelmäßiger Gast an internationalen Opernhäusern wie der Met in New York, der Scala in Mailand oder Covent Garden in London. Aktuell steht sie am Stuttgarter Haus in der Neuinszenierung von Tschaikowskys „Pique Dame“ auf der Bühne. top magazin traf die renommierte Sängerin vor der Premiere zum Interview.
top: Frau Schneiderman, die Gräfin in der Neuinszenierung von Tschaikowskys Oper „Pique Dame“ hier in Stuttgart ist Ihr Rollendebüt. War diese Partie schon lange Ihr Wunsch?
Schneiderman: Die Gräfin ist eine fantastische Partie, obwohl sie als Titelpartie – die Gräfin ist die „Pique Dame“ – nicht einmal die längste Partie in dieser Oper ist. Aber als Jossi Wieler und Sergio Morabito mich gefragt haben, ob ich die Rolle nicht übernehmen wollte, habe ich mich sehr gefreut. Schließlich weiß ich um die herausragende Arbeit der beiden – das Ergebnis ist in der Regel immer eine ganz besondere Inszenierung. Ich kenne die Oper noch aus meiner Studienzeit in Princeton, wo wir seitens des Westminster Choir College beim Musikfestival in Spoleto in Umbrien eingeladen waren und die Oper dort aufgeführt haben. Ich habe damals im Chor gesungen.
top: Die Oper entstand drei Jahre vor Tschaikowskys Tod – in einer Lebensphase, die von schweren Depressionen und heftigen Auseinandersetzungen mit seiner Frau geprägt war. Merkt man das der Musik an?
Schneiderman: Unbedingt! Wie fast jede Komposition Tschaikowskys ist auch „Pique Dame“ von großer Leidenschaft geprägt. Viele der Werke spiegeln auf musikalische Art seine Lebenskrisen wider. Er hatte aufgrund seiner Homosexualität in der damaligen Zeit einen ungemein schweren Stand und konnte darüber nicht groß mit jemandem sprechen. In der Partie des zwischen Liebe und Spielleidenschaft hin- und hergerissenen Helden German kommt der innere Kampf Tschaikowskys mit den gesellschaftlichen Konventionen eindrucksvoll zum Ausdruck.
top: Die Oper wird in der Originalsprache aufgeführt. Wie schwierig ist Russisch als Opernsprache?
Schneiderman: Grundsätzlich eignet sich Russisch wunderbar für die Stimme, die Sprache ist deutlich leichter zu singen als zum Beispiel Tschechisch. Im Vergleich zu Italienisch oder Französisch sind allerdings – erst recht für eine gebürtige US-Amerikanerin wie mich – intensivere Einarbeitungszeiten notwendig. Die Gräfin ist aber nicht meine erste Rolle in einer russischen Oper, ich habe hier in Stuttgart in Tschaikowskys „Eugen Onegin“ schon die Larina gesungen.
top: Sie sind seit über 30 Jahren Mitglied des Stuttgarter Opernensembles. Eine solche Kontinuität dürfte zu den Ausnahmeerscheinungen in der Opernwelt gehören – nicht nur in Stuttgart. Wollten Sie nicht mal wechseln?
Schneiderman: Ich hatte durchaus verschiedene Angebote, zum Beispiel aus Zürich und aus Hamburg. Vorrang hatte für mich aber stets meine Familie, ich wollte mit meinem Mann eine ganz normale Ehe führen. Meine wichtigste Rolle im Leben war und ist die der Mutter für meine beiden mittlerweile erwachsenen Töchter. Wir hatten in Stuttgart unser Zuhause – und das sollte auch so bleiben. Vor Stuttgart war ich zwei Jahre Mitglied des Ensembles am Heidelberger Theater, die Festanstellung an den Württembergischen Staatstheatern als international renommierte Bühne bedeutete für mich einen enormen Karrieresprung. Zumindest fest wollte ich dann eigentlich gar nicht mehr an ein anderes Haus. Aber das Gastieren an anderen Opernhäusern im In- und Ausland, wie etwa kürzlich an der Met in New York als Annina im „Rosenkavalier“ von Richard Strauss, war mir immer wichtig. Für die Rolle hat mich James Levine höchstpersönlich ausgewählt, leider konnte er krankheitsbedingt die Aufführungen nicht dirigieren. Der jüngste Auftritt dort führte nun übrigens auch bei meinen Landsleuten in den USA zu der Überzeugung, dass ich jetzt offensichtlich Karriere gemacht habe. Für viele Opernfans in den USA zählt nur die Met – die nehmen gar nicht zur Kenntnis, dass es auch in vielen anderen Städten der Welt hervorragende Opernhäuser gibt.
Die in New Jersey in den USA geborene Mezzosopranistin Helene Schneiderman absolvierte ihr Gesangsstudium in Princeton und Cincinnati. Seit 1984 ist sie Ensemblemitglied der Oper Stuttgart, 1998 erfolgte hier auch die Ernennung zur Kammersängerin. Ihr Repertoire umfasst die Titelpartien von La Cenerentola, Carmen, Giulio Cesare in Egitto und L’italiana in Algeri ebenso wie Smeton (Anna Bolena), Flosshilde (Das Rheingold), Hänsel (Hänsel und Gretel), Sesto (La clemenza di Tito), Penelope (Il ritorno d’Ulisse in patria) und Medea (Teseo). Zahlreiche Gastengagements führten sie unter anderem nach München, Rom, San Francisco und Seattle, an die New York City Opera und die Opéra National de Paris, zu den Festspielen in Salzburg und Pesaro, ans Royal Opera House Covent Garden, an die Met in New York und an die Scala in Mailand. An der Oper Stuttgart war Helene Schneiderman in dieser Saison erneut als Larina in Eugen Onegin zu erleben, darüber hinaus übernahm sie in der Neuinszenierung von Pique Dame die Titelpartie der Gräfin. Von 2007 bis 2013 war die Sängerin Professorin für Sologesang an der Universität Mozarteum Salzburg. Für ihre Verdienste um die christlich-jüdische Zusammenarbeit und ihren Einsatz für jiddisches Liedgut erhielt die mit dem Grafiker Michael Flamme verheiratete Mutter zweier Töchter 2008 die Otto-Hirsch-Medaille, darüber hinaus wurde sie 2010 mit dem Verdienstorden des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet.
top: 1998 wurden Sie zur Kammersängerin ernannt. Was bedeutet ein solcher Titel für eine Sängerin?
Schneiderman: Für mich persönlich ist der Titel eine große Ehre, zumal ich die jüngste Kammersängerin mit dieser Auszeichnung war. Zeitgleich mit mir wurde übrigens Tamas Detrich, damals Erster Solist im Stuttgarter Ballett und nun designierter Nachfolger des Intendanten Reid Anderson, zum Kammertänzer ernannt.
top: Beflügelt ein solcher Titel die Karriere?
Schneiderman: Für mich kann ich mit einem klaren „Nein“ antworten. Mit Titeln macht man in der Opernwelt keine Karriere. Was zählt, ist die Qualität der Stimme. Ich bin bis heute eine Perfektionistin und habe hierfür ein gutes Gefühl. Wenn ich nach einer Vorstellung mit mir zufrieden bin, war ich zu 99 Prozent auch tatsächlich gut. Ich bin selbst meine schärfste Kritikerin.
top: Und Ihr Mann, was sagt der?
Schneiderman: Der nimmt mich auch immer genau unter die Lupe, allerdings weniger in musikalischer Hinsicht. Er ist Grafiker und Künstler und bewertet mehr mein Spiel und das Bühnenbild.
top: Wie kamen Sie denn seinerzeit überhaupt zur Musik respektive zur Oper?
Schneiderman: Die Musik hat in meinem Elternhaus immer eine ganz zentrale Rolle gespielt. Meine aus Osteuropa stammenden Eltern waren Überlebende des Holocaust – und meine Mutter hat das Todeslager Auschwitz nur überlebt, weil sie als Mädchen mit geschorenem Kopf den Nazi-Soldaten so schön deutsche Volkslieder vorgesungen hat. An der Wiege hat meine Mutter mir immer die jiddischen Lieder ihrer Heimat vorgesungen. Mein Vater war in meinem Geburtsort am Shabbat gelegentlich Kantor in der Synagoge. Ich selbst habe auch früh angefangen zu singen, ging in einen Chor und habe dann auch Unterricht genommen. Meine Lehrerinnen und Lehrer sahen in mir offensichtlich ein gewisses Talent und legten mir nahe, Gesang zu studieren. Den wichtigsten Impuls für meine weitere Karriere bekam ich von meiner heute 94 Jahre alten Gesangslehrerin Lucile Evans, die meinte, ich solle unbedingt nach Deutschland an ein Opernhaus gehen. Ihrem Rat bin ich gefolgt und habe in Heidelberg 1982 nach dem Vorsingen gleich einen Zwei-Jahres-Vertrag bekommen.
top: Durch die Familiengeschichte war Deutschland für Sie aber doch sicherlich vorbelastet.
Schneiderman: Das stimmt, aber meine Eltern haben Lucile Evans vertraut und wollten für mich nur das Beste. In einem Interview haben meine Eltern einmal gesagt, sie würden ihre Tochter weit mehr lieben, als sie jemals Hass für jemanden empfinden könnten. Natürlich hätten sie niemals damit gerechnet, dass ich in Deutschland bleiben würde. Aber wir haben uns gegenseitig regelmäßig besucht.
top: Welche war Ihre erste Rolle in Heidelberg?
Schneiderman: In Rossinis „Il turco in Italia“ habe ich die Partie der Zaida gesungen, außerdem in Mozarts „Hochzeit des Figaro“ die Rolle des Cherubino und in Humperdincks „Hänsel und Gretel“ den Hänsel. Allein in der ersten Spielzeit hatte ich über 90 Vorstellungen, war also sehr beschäftigt.
top: Ihr Repertoire umfasst neben der Oper auch Operette, Oratorium und Lied. Stehen alle vier Genres für Sie gleichwertig nebeneinander?
Schneiderman: Meine größte Liebe gilt mit Abstand der Oper – unter anderem auch deswegen, weil ich es mag, wenn Musik und Schauspiel Hand in Hand gehen. Es ist meiner Ansicht nach viel schwerer, vor einem Publikum Lieder zu singen als auf der Opernbühne zu agieren, da ich in der Oper mit Kostüm, Maske und allem, was dazugehört, in eine Rolle schlüpfen kann.
top: Was hören Sie denn privat?
Schneiderman: Am liebsten genieße ich zu Hause die Ruhe und die Natur. Wenn ich im Auto unterwegs bin, höre ich gerne Popmusik und brasilianische Musik. Meine Töchter sagen mir dann häufig, was gut und gerade angesagt ist.
von Peter Tschaikowsky
in russischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Musikalische Leitung: Sylvain Cambreling, Frank Beermann
Regie und Dramaturgie: Jossi Wieler, Sergio Morabito
Bühne und Kostüme: Anna Viebrock
Ähnlich wie sein Zeitgenosse Dostojewsky in seinen Romanen transponiert Tschaikowsky mit dem delirierenden Psychogramm seiner 1890 uraufgeführten Oper „Pique Dame“ Motive aus Alexander Puschkins gleichnamiger 1834 erschienener Erzählung in die eigene Gegenwart. Kurzinhalt: German lässt die Geschichte einer Gräfin nicht los, von der es heißt, sie habe in ihrer Jugend als „moskowitische Venus“ am französischen Hof Furore gemacht und von dort das Geheimnis dreier unfehlbarer Karten mitgebracht. In Germans Seele verdrängt der erträumte Sieg im Glücksspiel die erotische Erfüllung seiner Liebe zu Lisa und führt ihn in eine tödliche Liebesumarmung mit der alten Gräfin.
Aufführungstermine: 24. und 27. Juni; 1., 6. und 24. Juli; 22., 26. und 30. September; 13., 16., 25. und 31. Oktober. Eine Einführung zum Stück findet vor jeder Vorstellung jeweils 45 Minuten vor Vorstellungsbeginn im Opernhaus, Foyer I. Rang statt.
top: Sie haben in Ihrer bisherigen Opernkarriere über 70 Rollen auf der Bühne verkörpert. Welche waren rückblickend am schönsten?
Schneiderman: Natürlich mag ich jede Rolle, die ich übernommen habe. Aber die Cenerentola in Rossinis gleichnamiger Oper hat es mir schon ganz besonders angetan. Diese Rolle hatte ich schon in den USA in einer kleinen Compagnie gesungen, bevor ich nach Deutschland kam – übrigens auf Englisch. Bei den Heidelberger Schlossfestspielen war ich dann ebenfalls in dieser Rolle zu erleben – in deutscher Sprache. In Stuttgart durfte ich die Rolle dann auf Italienisch von Doris Soffel übernehmen. Das war mein Debüt in Stuttgart.
top: Und haben Sie noch neue Partien auf Ihrer Wunschliste?
Schneiderman: Nein, eigentlich nicht. Ich freue mich auf das, was kommt – ob große oder kleine Rolle. In der nächsten Spielzeit werde ich in Stuttgart zum Beispiel als Neris in Luigi Cherubinis Oper „Medea“ zu hören sein. Das wird für mich erneut ein Rollendebüt sein. Grundsätzlich steht für mich im Vordergrund, gesund zu bleiben, meine Stimme zu erhalten, viel Zeit mit der Familie zu verbringen und noch so oft wie möglich meine Mutter in den USA zu besuchen.
top: Unterrichten Sie auch noch?
Schneiderman: Ja, das ist nach wie vor eine große Liebe von mir. Im Sommer werde ich an der Universität Mozarteum Salzburg einen Meisterkurs geben, im Herbst dann an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg.
top: Sind die Studierenden heute besser als früher?
Schneiderman: Das lässt sich so nicht sagen. Ich stelle allerdings fest, dass sich viele Studierende nicht genügend Zeit für die Entwicklung ihrer Stimme lassen – sie wollen zu früh große Partien. Das liegt unter anderem auch an der großen Konkurrenz.
top: Welchen Tipp haben Sie vor diesem Hintergrund für die Nachwuchssänger des Opernstudios parat?
Schneiderman: Freut Euch, dass Ihr zu den Auserwählten gehört und den Sprung ins Opernstudio geschafft habt. Habt Geduld und bleibt cool.
Farges mihk nit! – Vergiss mich nicht!
Lieder der jiddischen Operette
Helene Schneiderman, Mezzosopran
Barrie Kosky, Klavier
23. Juli 2017, 20 Uhr, Mercedes-Benz Museum, Großer Saal
(Einführung ins Konzert 30 Minuten vor Beginn)
In ihrem Programm lassen Helene Schneiderman und Barrie Kosky, Intendant der Komischen Oper Berlin, ein vergessenes Genre wiederaufleben: das jiddische Theater. Die Autoren und Komponisten, darunter Joseph Rumshinsky, Alexander Olshanetsky, Sholom Secunda oder der „jiddische Shakespeare“ Abraham Goldfaden, zum größten Teil aus Osteuropa stammend, emigrierten unter dem Druck der dortigen Pogrome Anfang des 20. Jahrhunderts in die USA, wo sie dem noch in den Kinderschuhen steckenden amerikanischen Musical und der aus Europa importierten Operette ein drittes Genre gegenüberstellten.
PS: Liedkonzert-Besucher können das Parkhaus des Mercedes-Benz Museums sowie das gegenüberliegende Parkhaus P4 kostenlos nutzen. Außerdem haben sie die Möglichkeit, bereits ab 17:30 Uhr die Ausstellung des Mercedes-Benz Museums kostenlos zu besuchen.