Gesundheit & Schönheit

Zu zart besaitet und hochsensibel?

Zu laut, zu grell, zu intensiv – sind Ihnen die vielen Eindrücke des Lebens häufig einfach zu viel? Sind Sie gerne allein, um sich zu erholen, zur Ruhe zu kommen und ihre facettenreiche Wahrnehmung verarbeiten zu können? Dann haben Sie weder eine Macke, noch sind Sie ein Einzelfall


Hochsensibel? Kein Problem!

Etwa 20 Prozent der Menschen sind hochsensibel – sie nehmen Reize und Informationen nicht nur intensiver wahr, sondern nehmen auch quantitativ mehr Eindrücke bewusst auf. Top Magazin beleuchtet, welche Folgen das für die betroffenen Menschen haben kann.

Tag für Tag nimmt der Mensch Informationen aus seiner Umwelt auf und verarbeitet sie. Meistens wird jedoch aus dieser Wahrnehmung ein Großteil der Informationen herausgefiltert. Beispielsweise, wenn wir uns an ein Geräusch gewöhnt haben: Wer an einer Straße wohnt, deren Lärm zwar hörbar ist, einen aber nicht besonders belästigt, wird diese Geräusche nach einer gewissen Zeit nicht mehr wahrnehmen, obgleich sie objektiv nach wie vor vorhanden und hörbar sind. Kommen Gäste zu Besuch, die einen auf den Verkehrslärm aufmerksam machen, nimmt man ihn für einige Zeit wieder wahr, um schon bald in die alte Gewohnheit zu verfallen und den Lärm auszublenden. Der „Gesang“ der Straße wird also aus der Wahrnehmung herausgefiltert.


„Dieser Filter ist bei hochsensiblen Menschen aufgrund neurologischer Besonderheiten weniger stark ausgeprägt als bei nicht hochsensiblen Menschen“, sagt Dr. Michael Jack, Präsident des Informations- und Forschungsverbunds Hochsensibilität e.V. (IFHS) in Bochum.


Hochsensible würden feine Einzelheiten in einem größeren Spektrum wahrnehmen.

Was genau Hochsensible allerdings im Einzelfall intensiver wahrnehmen, ist unterschiedlich, auch weil sich die Wahrnehmung auf das Innere und das Äußere erstreckt. Manche „Highly Sensitive Persons“ (HSP) – den Begriff prägte in den 1990er-Jahren die US-amerikanische Psychologin Dr. Elaine Aron – nehmen zum Beispiel Gerüche sowie optische und akustische Eindrücke intensiver oder facettenreicher wahr, andere bemerken feine Nuancen in zwischenmenschlichen Beziehungen und können manchmal sogar fühlen, ob eine Person lügt. Wahrnehmung ist freilich anstrengend. Wer einige Stunden in der Oper saß, wird zu Hause nicht gleich eine CD in die Stereoanlage einlegen und Musik hören. Wer 90 Minuten konzentriert einem Vortrag gelauscht hat, braucht eine Pause. Schließlich hat der Mensch nur begrenzte Aufnahmekapazitäten, irgendwann sind die inneren Speicher voll und die Akkus leer. Wenn Hochsensible nun permanent wesentlich mehr Informationen aufnehmen als „normal“ sensible Menschen, so liegt es in der Natur der Sache, dass bei ihnen die Speicher schneller voll und die Akkus schneller leer sind. Ihre Nerven brauchen nach Zeiten der intensiven Stimulierung früher eine Phase der Regeneration.

Hochsensibilität ist keine Krankheit

Aufnahmekapazitäten bestimmen allerdings nicht nur die Dauer der erträglichen Wahrnehmung von Informationen, auch begrenzen sie Umfang und Intensität an Information, die zur selben Zeit aufgenommen werden kann. Werden uns zu viele Bilder in zu hektischer Abfolge gezeigt, wird uns unwohl, wir wünschen uns ein langsameres Tempo. Viele Menschen fühlen sich belastet, wenn zu viele Personen gleichzeitig auf sie einreden. Auch hier stoßen Hochsensible früher an ihre Grenzen: Bei HSP kann Überstimulation zu Unwohlsein führen und sogar Schmerzen verursachen. Wenn sie sich dann aus bestimmten Situationen zurückziehen, wird das häufig als Ungeselligkeit, Snobismus, elitäres Empfinden oder Unhöflichkeit interpretiert. In Wirklichkeit ist es aber Flucht vor der Überreizung.

HSP, die um ihre Veranlagung noch nicht wissen, glauben sehr häufig, mit ihnen sei etwas nicht in Ordnung, sie seien krank und behandlungsbedürftig. Der äußere Eindruck scheint dies auch zu bestätigen: Alle anderen können Dinge tun, die für HSP unerträglich sind. Im Glauben, die eigene Andersartigkeit sei etwas Pathologisches, versuchen sie, dagegen anzukämpfen, was in neue Teufelskreise bis hin zu Selbsthass führen kann. Wissen HSP jedoch um ihre Besonderheit, können sie ihre Sensibilität häufig genießen, ja sogar nutzen. Viele HSP sind außergewöhnlich kreativ, andere durch Schnelligkeit, Geistesgegenwart und fast pedantische Genauigkeit in ihrem Beruf überaus leistungsfähig. Häufig werden HSP auch als gute Zuhörer geschätzt, da sie ein feines Gespür für Stimmungen und subtile Botschaften haben und mit Verletzlichkeit behutsam umgehen können.

Ihre entsprechenden Fähigkeiten sind hochtrainiert, die Vielschichtigkeit und der Facettenreichtum ihrer Wahrnehmungen spiegeln sich auch in ihren Interpretationen der Welt wider. HSP hüten sich vor verfälschend einfachen Denkmustern und kommen in ihrem Verständnis der Welt der komplexen Realität weitaus näher als Nicht-HSP. „Das wiederum kann im Ernstfall aber auch zu elementaren Krisen führen, wenn zum Beispiel aufgrund der erbarmungslosen Selbstreflexion die eigene Existenz plötzlich in Rechtfertigungsnöte gerät“, warnt Dr. Michael Jack. Depressionserscheinungen und Angstzustände seien daher für manche HSP bekannte Gefährten.

Hochsensibel: Entspannung

Sich der eigenen Besonderheit bewusst werden

Ebenso führt die intensive Reflexion häufig zu Vorsicht und Zurückhaltung im Urteil – die These lässt sich in der Regel schließlich genauso verfechten wie die Antithese. Zu Traurigkeit und Verzweiflung kann führen, dass sich diese Vorsicht bei den Mitmenschen nicht findet. Unter Umständen abstoßend wirken emotional aufgeladene Vehemenz und Überzeugungen, die aus der Sicht der Hochsensiblen nicht gründlich geprüft und hinterfragt wurden. Alles ist doch so kompliziert, und die Mitmenschen scheinen dies nicht zu verstehen, sondern eindimensional und oberflächlich zu denken, nicht hinter die Kulissen zu blicken, kein Verständnis zu haben dafür, dass zurückhaltende Differenzierung dem oberflächlichen Draufgängertum überlegen ist. Eine gewisse Vereinsamung des hochsensiblen Geistes kann die Folge sein.


„Mitunter passiert es auch, dass sich ein Hochsensibler, der seine Grenze überschritten hat, radikal verändert“, gibt Rolf Sellin, Gründer und Leiter des Instituts HSP – Kompetenz für Hochsensible in Stuttgart, zu bedenken.


Von einer Sekunde auf die nächste kippe seine hohe Sensibilität um in einen Zustand völlig fehlender Sensibilität. „Soeben war er noch einfühlsam, hilfsbereit und nachsichtig, verständnisvoll und gütig, tolerant und rücksichtsvoll, höflich und fein – und plötzlich ist er all das nicht mehr.“

Was also tun? Ein „Diagnoseverfahren“ oder Ähnliches gibt es für Hochsensibilität nicht. Zwar existieren diverse Fragebögen, die mehr oder weniger stark den Anspruch erheben, ein aussagekräftiges Ergebnis zu liefern. Angesichts der vielen „Probleme“ werden in der Literatur von und für Hochsensible Strategien und Taktiken dargestellt, wie man seine besonderen Bedürfnisse mit der Realität der heutigen Zeit einigermaßen in Einklang bringen kann. „Grundsätzlich geht es darum, sich der eigenen Besonderheit bewusst zu sein und sie immer ein bisschen mit zu bedenken, wenn man alltägliche Entscheidungen darüber trifft, was man tut und wie man lebt“, rät Dr. Michael Jack vom IFHS. Nach erstem Kontakt mit dem Terminus Hochsensibilität werde häufig von großer Erleichterung berichtet. Ganz nach dem Motto: „Mir ist ein riesiger Stein vom Herzen gefallen“. Der IFHS hat übrigens damit begonnen, eine Kontaktliste mit Spezialisten aufzubauen, bei denen man Hilfe suchen kann. Sie findet sich im Internet unter www.hochsensibel.org.


Buchtipp

Kathrin Sohst: Zart im Nehmen. Wie Sensibilität zur Stärke wird
Gabal Verlag, 300 Seiten, 24,90 Euro
Hochsensibel: Zart im Nehmen
„Jetzt stell dich doch nicht so an!“, „Sei doch nicht so eine Mimose!“ – Sprüche wie diese hat Kathrin Sohst oft genug hören müssen. Selbst hochsensibel, nähert sie sich dem Thema daher nicht wie viele andere Autoren aus psychologischer Sicht, sondern aus ihrer Erfahrung heraus. Sie versteht sich selbst als Botschafterin für hochsensible Menschen – doch ihr Buch ist nicht nur für ihresgleichen. Aufgeteilt in drei Abschnitte, fokussiert sich Kathrin Sohst zuerst auf Informationen zum Phänomen Hochsensibilität und erklärt aus der Sicht einer „Betroffenen“, was es bedeutet, über eine hohe Wahrnehmung zu verfügen, welche unterschiedlichen Ausprägungen es gibt und welche Stärken diese Gabe mit sich bringt. Im zweiten Teil lässt sie andere Hoch sensible zu Wort kommen, die authentische Erlebnisse aus ihrem Alltag schildern und erzählen, wie sie bestimmte Situationen erlebt haben, wie sie damit umgegangen sind und was sie daraus gelernt haben. Das Themenspektrum reicht von Situationen im Job, in der Familie oder in der Partnerschaft bis hin zu den Herausforderungen, die zum Beispiel ein Kinobesuch mit sich bringen kann. Im dritten Teil des Buches schließlich stellt Kathrin Sohst hilfreiche Strategien vor, mit denen es feinfühligen Menschen gelingt, trotz oder gerade mit Hilfe ihrer vermeintlichen Überempfindlichkeit Stärke zu entwickeln, ihre Ziele zu erreichen sowie sensibel und erfolgreich zu leben.


Weiterer Buchtipp von Rolf Sellin, Gründer und Leiter des Instituts HSP – Kompetenz für Hochsensible in Stuttgart:
Wenn die Haut zu dünn ist. Hochsensibilität – vom Manko zum Plus.
Kösel Verlag, 176 Seiten, 16,99 Euro.

Artikel von www.top-magazin.de/stuttgart