Kultur

Stefan Siller: „Neugierde ist keine schlechte Tugend!“

Über dreißig Jahre lang hat Stefan Siller auf SDR 3 und SWR 1 die Kultsendung „Leute“ moderiert, bis er im Dezember letzten Jahres das Radiomikrofon zur Seite gelegt hat. Mit Top Magazin sprach er über die Anfänge seiner Karriere, bewegende Gespräche on Air und seinen wohlverdienten Ruhestand.


Stefan Siller im Interview

Stefan Siller im Interview

Top Magazin: Herr Siller, am 16. Dezember 2015 lief die letzte von Ihnen moderierte „Leute“- Sendung. Wie geht es Ihnen heute im Ruhestand?

Stefan Siller: Meine schlimmsten Befürchtungen haben sich zum Glück nicht bestätigt. Ich hatte echt Angst, dass ich in ein riesiges Loch fallen würde, da sich das Leben ja doch sehr verändert. Aber erstaunlicher Weise lief das bei mir sehr gut. Vielleicht liegt das daran, dass ich zuerst einmal sehr weit weg Urlaub gemacht habe und dann einfach im Urlaub geblieben bin, obwohl ich wieder zurück in Stuttgart war (lacht). Zum anderen, denke ich, hat das auch sehr viel mit meinem Buch und meiner Lesereise zu tun, die mich sehr gut beschäftigen. Außerdem hatte ich so ein erfülltes Berufsleben, dass ich jetzt in meinem Ruhestand nicht das Gefühl habe, ich hätte irgendwas verpasst – das macht es auf jeden Fall einfacher.
Sie können auf über 30 Jahre „Leute“ zurückblicken. Wissen Sie eigentlich genau, wie viele Sendungen Sie gemacht haben?

Stefan Siller: Sie werden lachen, es hat sich wirklich jemand aus dem Sender die Mühe gemacht und einmal genau nachgezählt, wie viele es im Laufe der Jahre waren. Und zwar exakt 2950. Aber das heraus zu finden war gar nicht so einfach, weil die Sendung nicht immer „Leute“ hieß.
Und an welche dieser 2950 Sendungen erinnern Sie sich besonders gerne zurück?

Stefan Siller: Man erinnert sich natürlich am Liebsten an Sendungen, die man selbst für gelungen hält oder auf die man ein tolles Echo bekommen hat. Dazu gehören bei mir sicherlich mehrere Gespräche mit Harald Schmidt, besonders eines, bei dem es ziemlich viele technische Pannen am Stück gab und wir sehr improvisieren mussten. Wenn einem so etwas live passiert, dann kann man wirklich froh sein, einen Gast wie Harald Schmidt zu haben und nicht jemanden, der zwar auch gut ist, aber bei solchen Improvisationen nicht so spontan und spritzig rüberkommt, wie er.
Harald Schmidt hat mal über Sie gesagt: „In den Interviews mit Stefan Siller war ich immer besser, als ich eigentlich bin.“ Schon ein sehr großes Kompliment von einem Mann, der an vielen Zeitgenossen oft nur wenig Gutes lässt, oder?

Stefan Siller: Nun ja, so würde ich Harald Schmidt nicht bezeichnen, aber ich weiß natürlich, was Sie meinen. Ich bin ihm sehr dankbar, dass er das über unsere Gespräche gesagt hat und wir hatten auch immer ein sehr gutes und entspanntes Verhältnis zueinander. Ich glaube, nach Wolfgang Niedecken von BAP und Heiner Geißler war er der meist interviewte Gast bei uns.
Gab es noch weitere Lieblingsgäste?

Stefan Siller: Ja, natürlich. Ebenfalls beeindruckt hat mich der andere Schmidt – nämlich Helmut Schmidt. Mit Ihm war es ein sehr kluges Gespräch, bei dem wir viel über Verantwortung gesprochen haben. Dann gibt es da natürlich noch die nicht prominenten Zeitgenossen, die aber trotzdem sehr viel spannendes und bewegendes erzählen konnten. Darunter ein Mann, dem das Schicksal sehr brutal mitgespielt hatte, weil er beide Söhne gleichzeitig bei einem Autounfall verloren hat. Wenn man als Elternteil ein Kind verliert, ist das schon sehr schlimm, aber diesen Mann hatte es noch schlimmer getroffen: Das eine Kind hat das andere zu Tode gefahren. Ich glaube, viel schlimmer geht es wohl nicht. Sehr interessant bei ihm war noch, dass dieser Herr von sich aus in die Sendung wollte. Wir hätten es von uns aus nie gewagt, jemanden mit so einem Schicksal anzufragen. Was ich auch nie vergessen werde, war das Gespräch mit einer Frau, die von Geburt an taub war. Sie hat mir von den Lippen abgelesen und ich musste noch etwas deutlicher und ausdrücklicher sprechen, als sonst. Ich hatte ihr im Vorfeld angeboten, dass wir die Sendung auch aufzeichnen können. Daraufhin meinte sie nur: „Warum? Wir unterhalten uns doch bloß!“ Sehr beeindruckend.
Wie haben Sie sich auf solch unterschiedliche Menschen mit so unterschiedlichen Biografien und Geschichten vorbereitet?

Stefan Siller: Deswegen habe ich meinen Job so geliebt, weil ich diese Vielfalt hatte. Als das Schaf Dolly damals geklont wurde, wollten wir einen Genforscher in die Sendung einladen. Ich hatte natürlich keine Ahnung von diesem Thema, aber für das Gespräch musste ich mich darauf vorbereiten – und zwar mehr als letztendlich in der Sendung zum Tragen kam. Ich durfte nämlich kein Fachgespräch führen, bei dem die Hörer irgendwann nicht mehr mitgekommen wären, aber ich musste soweit fit sein, dass ich wusste, der Gast erzählt mir keine Märchen. Das heißt also, ich musste mich intensiv einlesen. Viele Gäste hatten Bücher geschrieben, die waren dann natürlich Pflicht. Auch das Internet … Und Offenheit war ganz wichtig. Ein guter Moderator muss nicht nur zuhören, sondern auch sinnvolle Fragen stellen können und daraus dann das Gespräch weiter entwickeln.


Erinnern Sie sich noch an Ihre erste „Leute“-Sendung und an Ihren ersten Gast?

Stefan Siller: Ja, das war der Zeichner Janosch. Schon damals eilte ihm der Ruf voraus, kein einfacher Interviewpartner zu sein. Es wurde aber trotzdem eine sehr angenehme Unterhaltung.
Was für Gespräche haben Sie eigentlich mit Ihren Gästen geführt, wenn das Mikrofon aus war?

Stefan Siller: Ganz unterschiedlich. Manchmal haben wir einfach nur Smalltalk geführt. Es galt aber der Grundsatz, über nichts zu sprechen, was mit dem Thema zu tun hatte. Denn sonst hätten weder der Gast noch ich gewusst, ob dies schon in der Sendepause privat besprochen wurde. Oft kamen aber persönliche Dinge zum Tragen, die der Gast nur erzählt hat, weil er wusste, dass das Mikro nicht an ist. Darüber rede ich aber nicht, weil sich das einfach nicht gehört. Da finde ich, hat man als Journalist genau so eine Schweigepflicht wie Ärzte oder Anwälte.
Ihr journalistischer Weg hat sich ja schon sehr früh abgezeichnet. Als Grundschüler sollen Sie Ihren Eltern immer die Schlagzeilen aus der aktuellen Tageszeitung schriftlich zusammengefasst auf den Frühstückstisch gelegt haben?

Stefan Siller: Das stimmt. Ich wollte wirklich schon von meiner Kindheit an Journalist werden und hatte damals schon eine sehr ausgeprägte Neugierde. Auch war ich immer schon der Meinung, dass man Wissen weiter vermitteln muss.
Sie haben dann nach dem Abitur bei der „Neuen Westfälischen“ in Bielefeld volontiert und danach ging es zum damaligen Sender Freies Berlin.

Stefan Siller: Um ganz genau zu sein zum Jugendprogramm des SFB. Das Programm dort war schon damals bimedial ausgerichtet, es wurde also Radio und Fernsehen zusammen gemacht. So lernte ich neben dem Schreiben auch die Arbeit im Hörfunk und TV.
Was war für Sie damals der Reiz des Radiomachens?

Stefan Siller: Dass man mit wenig Aufwand viel erreichen kann. Fernsehen ist toll, weil man im Team arbeitet und weil das Bild dazu gehört. Beim Radio braucht man aber nur ein Mikrofon und zwei Menschen, die sich unterhalten und schon kann sich da was spannendes draus entwickeln.
Vom SFB hat Sie dann Ihr Weg zum damaligen SDR nach Stuttgart geführt. Und dort waren Sie neben Ihrer journalistischen Tätigkeit auch als Konzertveranstalter tätig.

Stefan Siller: Das stimmt. Ich habe damals zusammen mit einem guten Freund unter anderem BAP und die Toten Hosen nach Stuttgart geholt. Zu der Zeit waren die Bands noch relativ unbekannt. Leider hatte ich damals von diesem Business überhaupt keine Ahnung: Ich wusste nicht, was eine PA ist, wie man an Aufbauhelfer herankommt, wie hoch die Gagen für einen Gig waren und auch nicht, wo man die Bands dann hätte spielen lassen können. So sind wir nachts durch Stuttgart gezogen, haben ein paar Bier getrunken und schließlich die „Mausefalle“ gefunden. Eine Location, in der der große Kabarettist Werner Fink mal Karriere gemacht hat. Ja, und so hat sich das alles im Lauf der Jahre dann ganz erfolgreich entwickelt.
Okay, dann wäre das auch geklärt. Eine weitere spannende Aufgabe in Ihrer Karriere war die eines Sportmoderators für Blinde beim VfB. Wie muss man sich das vorstellen?

Stefan Siller: Das bin ich sogar immer noch und geht auf eine Initiative der FIFA aus dem Jahr 2006 zurück. Es gibt schon immer blinde Menschen im Stadion, die auch mal diese tolle Atmosphäre erleben wollen. Die sitzen unten in der zweiten Reihe der Haupttribüne, während mein Kollege Michel Ries und ich von der Pressetribüne aus ins Mikrofon reden. Über Kopfhörer können die Sehbehinderten das Spiel dann mithören. Alles das, was einem Blinden entgeht, reportieren wir für diese Menschen. Zum Beispiel die Farbe der Trikots, wie der Gästeblock aussieht, ob das Stadion voll ist und natürlich auch den Spielverlauf. Es freut mich sehr, dass mir diese Aufgabe in meinem neuen Lebensabschnitt erhalten bleibt.
Was macht für Sie einen guten Journalisten aus?

Stefan Siller: Ein guter Journalist muss jemand sein, der sich für Menschen und die Welt interessiert, der neugierig ist und das Bedürfnis hat, Dinge, die er für wichtig hält, oder die auf der Welt passieren, anderen zu vermitteln.
Sie haben eben die Neugierde angesprochen. Sehen Sie das als eine positive Eigenschaft?

Stefan Siller: Ich hätte mein Buch natürlich nicht danach benannt, wenn ich das als eine rein schlechte Eigenschaft ansehen würde. Aber natürlich ist es allgemein gesehen eher ein zwiespältiges Wort. Ich persönlich empfinde Neugierde aber als etwas tolles und vor allem wichtiges, solange man offen ist, die Welt damit wahrnimmt und niemanden verletzt oder diffamiert.
Erzählen Sie uns mehr von Ihrem Buch.

Stefan Siller: Ich wollte bewusst keines schreiben, in dem nur die Sendung „Leute“ thematisiert wird, sondern dem Leser einen kleinen Einblick in mein bisheriges Schaffen vermitteln. Ich werde dafür bestimmt keinen Pullitzer-Preis gewinnen. Ich wollte einfach einige spannende Stationen meines Lebens auf unterhaltsame Art und Weise erzählen. Ob mir das gelungen ist, muss jeder selbst für sich entscheiden.
Der Begriff „Kult“ wird heutzutage ja eher inflationtionär gebraucht und gehandhabt, aber in Ihrem Fall trifft das schon zu, wenn man mal zurückblickt aufs Jahr 1989 und die Entstehung der „Top 1.000X“ Hitparade. Daran waren Sie ja maßgeblich beteiligt.

Stefan Siller: Als Gesamtprodukt betrachtet, ist „Leute“ mit Sicherheit das Wichtigste, dass ich beim Radio gemacht habe. Wenn ich aber ein Einzelprojekt herausnehmen müsste, dann war es ganz klar dieses Event. 1989 wurde SDR3 zehn Jahre alt und mein Kollege Thomas Schmidt und ich wollten zu diesem Jubiläum etwas ganz besonderes auf die Beine stellen. Das Ergebnis war eine Marathon-Hitparade über fünf Tage. So etwas hatte es zuvor noch nicht gegeben, wir waren das Gesprächsthema im Land, womit wir nie gerechnet hätten.
Kommen wir wieder zurück vom Jahr 1989 in die Gegenwart. Am 4. Januar hatte Ihre Nachfolgerin Nicole Köster ihren Einstand bei „Leute“. Haben Sie die Sendung gehört?

Stefan Siller: Ich konnte leider nicht die vollständige Sendung verfolgen, aber natürlich war ich auch da neugierig genug, mal zu gucken, was passiert. Und ich muss sagen, sie hat das echt toll gemacht. Ich habe ihr dann auch gleich danach eine Mail geschrieben und ihr gratuliert. Ich werde aber den Teufel tun und ihr jeden zweiten Tag mit guten Tipps daher kommen. Dazu sehe ich überhaupt keinen Anlass. Wenn sie Fragen hat oder Ratschläge braucht, kann sie aber gerne jederzeit auf mich zukommen. Sie wird mit der Sendung bestimmt eine sehr aufregende und
spannende Zeit vor sich haben.
Nicole Köster hat gerade erst mit ihrer neuen Aufgabe begonnen, Sie haben Ihre Radiokarriere beim SWR beendet. Wohin soll Ihr Weg noch führen?

Stefan Siller: Ich möchte auf jeden Fall mit meinen Lesetouren weitermachen, dazu kommen noch verschiedene Podiumsdiskussionen, die ich moderieren werde. Vielleicht setzte ich mich auch noch einmal hin und schreibe ein bisschen was. Ansonsten habe ich jetzt endlich mehr Zeit, mich mit der Familie zu beschäftigen. Das ist auch keine schlechte Aufgabe.

 

*Auf dem Titelbild zu sehen: Stefan Siller (re.) beim Gespräch mit Karin Endress und Boris Mönnich

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Stefan Siller: Neugierig
In „ Neugierig – auf Leute und die ganze Welt“ präsentiert  Stefan Siller seine gesammelten Anekdoten und Erinnerungen aus über 30 Jahren „Leute“. Er gibt interessante Einblicke auf prominente und auch gar nicht prominente Menschen, die er interviewt, ja geradezu in »Intensivgespräche« verwickelt hat. Und jedes Mal hörten ihm dabei weit mehr als eine halbe Million Menschen zu …<br> Er berichtet, wie er als blutiger Anfänger Konzertveranstalter wurde und Gruppen wie Die Toten Hosen, Ideal oder BAP verpflichtet hat. Er erzählt aus seiner journalistischen Anfangszeit, von der Literatur, von der Musik – und von seiner großen Leidenschaft und Neugier, Menschen, ihre Geschichte und Geschichten kennenzulernen.

Artikel von www.top-magazin.de/stuttgart