Menschen

Gemeinsam in einem Boot

Früher ging es um Medaillen, wenn sich Ansgar Wessling und Thomas Rüth in ihrem Boot in die Riemen legten. Noch als Leichtgewichte zusammen in der Nationalmannschaft bei einer Weltmeisterschaft. Dann ruderte Ansgar Wessling zu olympischem Gold davon. Heute begegnen sich die zwei Essener nach zwei völlig unterschiedlichen Lebenswegen wieder am Ursprung, auf dem Baldeneysee am Ruder. Heute geht es bei ihnen um den Teamgeist und die Freundschaft.


Ansgar Wessling und Thomas Rüth legen sich bis heute immer mal wieder gemeinsam in die Riemen und rudern über den Baldeneysee, der sie in ihrer Jugendzeit noch trennte

 

Sie sind zwei Essener Jungs, aber einst trennt sie fast eine ganze Welt. Denn sie kommen von zwei entgegengesetzten Seeufern: Während Ansgar Wessling als Kind beim TV Kupferdreh zum ersten Mal in ein Boot steigt, gehört Thomas Rüth dem Ruderclub am Baldeneysee mit seiner Kruppschen Tradition an. Beide legen sich in ihrem Verein sportlich kräftig ins Zeug und feiern jeweils im Zweier ohne Steuermann Erfolge. Und so treffen sie sich schließlich förmlich in der Mitte: Die Trainer fügen die beiden erfolgreichen Boote der Stadt zu einem Vierer zusammen und schicken sie auf internationale Gewässer.

Da schreibt man das Jahr 1984, und die zwei „Essener Jungs“, wie sie sich heute noch selber nennen, sind zwar super sportlich, gehören aber zu den absoluten Leichtgewichten. Für diese Klasse unter 70 Kilogramm gibt es zwar kein Ticket zu den Olympischen Spielen, aber zur parallelen Weltmeisterschaft in Kanada. Da gewinnen sie, was es zu gewinnen gibt, werden zweifacher Internationaler Kanadischer Meister, entscheiden das legendären Henley-II-Rennen für sich. Da sind die beiden 22 und 23 Jahre alt und haben ihrer sportlichen Karriere die erste Krone aufgesetzt.

Ein Weg nach oben, manchem Hindernis zum Trotz. Denn als Ansgar Wessling zum ersten Mal einen Kumpel aus der Grundschule zum Rudern begleitet, ist ihm der Zutritt schlicht verwehrt. Das Kind kann nämlich nicht schwimmen. Erst als er 1974 endlich seinen Freischwimmer besteht, wird der Traum wahr. Er meldet sich gleich am nächsten Tag bei der Ruderriege an und taucht von Stund an begeistert in diesen Sport ein.

Schwimmen ist für Thomas Rüth nicht das Problem, als sich der kräftige Junge mit dem Spitznamen „Old Shatterhand“ zuerst beim Steeler Ruderverein vorstellt. Der Kindertrainer begutachtet den Kandidaten und fällt ein vernichtendes Urteil: Der Kerl hat ja gar kein Talent. Das lässt Thomas nicht auf sich sitzen. „Ich war so wütend, ich hab dann im Einer alle anderen weggehauen“, lächelt er heute. Das bleibt am großen See nicht unbemerkt und der Ruderclub am Baldeneysee lotst ihn an sein Ufer.

Auf der anderen Seeseite steht der TV Kupferdreh als Konkurrenz gegenüber, „die grüne Pest haben wir damals nach den Vereinsfarben gesagt“, lacht Thomas Rüth. Und wenn man sich auch im Wettbewerb nichts schenkt, so trifft man sich schließlich in der Mitte – eben in dem einen Boot für den Nationalkader. „Das ist Rudern. Im Boot ist man nur gemeinsam schnell. Es geht nicht ohne Team“, sagt Ansgar Wessling. Und weiß genau , wovon er spricht: Als er nach 1984 die Leichtgewichtsklasse verlässt, wird er vom Deutschen Ruder-Verband für einen Einsatz im Achter gecastet und holt prompt mit dem legendären Deutschland-Achter Gold bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul.

 

Rudern ist Teamsport – nicht nur auf dem Wasser, wissen Ansgar Wessling und Thomas Rüth

 

Den Weg dahin geht der Essener mit unfassbarer Selbstdisziplin: In seiner Augenoptiker-Lehre wird er auf die Hörakustik aufmerksam und findet nach dem bestanden Abschluss dafür eine Ausbildungsstelle in Osnabrück. Zwischen 1985 und 1987 pendelt Ansgar Wessling zwischen Osnabrück, dem Ruderleistungszentrum in Dortmund, seiner Heimatstadt Essen, seiner Freundin in Hannover und der Berufsschule in Lübeck. Alles mit einem Opel Kadett, auf dem Dach ein Acht-Meter-Einer (mit Sondergenehmigung), stets greifbaren Hanteln und einem Ergometer im Kofferraum. „Dann hab ich entweder den Einer vom Dach geholt und bin auf dem Kanal gefahren oder hab im Parkhaus mit dem Ruderergometer trainiert,“ erzählt der heute 59-Jährige. Und er weiß: „Damals habe ich gelernt, meine Ressourcen zu erkennen und sinnvoll einzusetzen“. Diese Lebens-Lehre hat auch Thomas Rüth durchgemacht – buchstäblich: 1985 stürzt er beim Skifahren so schwer, dass sein gesamtes Leben auf dem Kopf steht, er dabei auch praktisch sein Gesicht verliert. Ein gutes Jahr lang dauert es, bis der Nationalsportler von einst überhaupt wieder sicher auf den Beinen steht, die alte Karriere ist passé. Da tun sich neue Türen auf: Die Deutsche Olympische Gesellschaft sucht einen Ruder-Trainer für einen Einsatz in Japan und Thomas Rüth schlägt ein. So gut es ihm auch dort gefällt – einen festen Job schlägt er aus, studiert lieber Sozialarbeit und heuert 1989 bei der Arbeiterwohlfahrt an. Einsatzschwerpunkt: Der Essener Norden, als dort gerade die Kokerei geschlossen hat. Und er erfährt: „Sozialarbeit ist wie Rudern ein absoluter Ausdauersport. Man braucht breite Schultern und eine Mannschaftsleistung, um dabei voranzukommen.“

 

Olympisches Gold 1988 mit dem legendären Deutschland-Achter krönt die Karriere von Ansgar Wessling

Mit der Mannschaft im Deutschland-Achter schafft Ansgar Wessling ein zweites Mal in seinem Leben olympisches Edelmetall: Bronze 1992 in Barcelona, dann ist Schluss mit dem Leistungssport, und die Aufmerksamkeit gehört der Familie und dem Geschäft. Dafür hat er 1990 die Hörakustiker-Meisterprüfung abgelegt – am Morgen nach einem langen Flug sofort nach der Ruder-WM in Australien. Ja, auch das war etwas unkonventionell, gesteht der Geschäftsmann heute zu, aber er wollte sich halt nicht entscheiden. Seine Philosophie bleibt ohnehin bei jedem Einsatz, ob im Sport oder Business, gleich: „Wenn ich das Rennen gewinne, dann vorne.“ Heute rudern in seinem Team 80 Mitarbeitende in 12 Essener Hörakustik-Filialen auf dem stetigen Weg nach vorne.

Ansgar Wessling trifft sich gerne mit seinem Kumpel aus alten Tagen wieder in einem Boot. Da tauchen sie nicht nur die Ruder ins Wasser, sondern auch in viele gemeinsame Erinnerungen ein. Ihr Sport interessiert sie immer noch, zum Beispiel wenn der Sieg im Stadtachter ausgefahren wird. Da waren sie schließlich einst auch selbst am Start. In verschiedenen Booten mit ganz unterschiedlichen Erfolgen. Und während Thomas Rüth diese renommierteste Essener Trophäe gleich mehrfach erobert hat, lächelt Ansgar Wessling schelmisch: „Ich hab im Rudern alles gewonnen – nur nie den Stadtachter. Da kannst du Olympia-Gold haben, aber ohne Stadtachter, da bist du an der Theke hintendran.“ Auch so geht eben echte Augenhöhe im Rudern.

 

 

Thomas Rüth (ganz rechts) war für die Nationalmannschaft im Einsatz
Artikel von www.top-magazin.de/ruhr