Ruhrrevier

Moskau, Washington, New York und die Ruhr.2010

Fritz Pleitgen stammt aus Duisburg und erklärte für den WDR den Menschen die Welt. Und stand in seiner Heimatregion bei der RUHR.2010 für die europäische Kulturhauptstadt mit am Ruder.


Der doppelte Fritz: Fritz Pleitgen, Ex-WDR-Intendant und Geschäftsführer der RUHR.2010 und “Unser Fritz” die Kulturzeche in Wanne-Eickel, das heute zu Herne gehört

 

Keine Frage, zunächst einmal ist Fritz Pleitgen ein buchstäblich herausragender Journalist. Die altehrwürdige F.A.Z. nannte ihn dereinst einen „Reporter von Welt“. Das Publikum kennt den hochgewachsenen Mann mit der markanten Stimme als Korrespondent in Moskau, Washington, New York und Ost-Berlin (vor der Wende), als Moderator des sonntäglichen Presseclubs in der ARD, als Intendant des WDR. Aber noch bevor seine Amtszeit als Chef der größten Rundfunkanstalt endete, richtete sich Pleitgens Augenmerk auf seine Heimatregion, nämlich in Richtung Ruhrgebiet. Der gebürtige Duisburger wurde Geschäftsführer der RUHR.2010, einer GmbH mit Sitz in Essen. Das gaben der nordrheinwestfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers und Essens Oberbürgermeister Wolfgang Reiniger 2007 bekannt. Die Ruhr.2010 sollte für die Planung des Europäischen Kulturhauptstadt-Jahres 2010 in Essen und dem Ruhrgebiet verantwortlich sein. In der Rückschau sagt er, das sei für ihn eine besondere Ehre gewesen, eine Herausforderung mit Diplomatenstatus, sozusagen.

Seine journalistischen, politischen und diplomatischen Fähigkeiten – so hielt er auch Kontakte zu sowjetischen Dissidenten – qualifizierten ihn 1977 für den Korrespondentenposten in Ost-Berlin. Davor war er in Moskau, hatte dort als erster westlicher Journalist ein Interview mit dem damaligen sowjetischen Generalsekretär der KPdSU, Leonid Breschnew, geführt. 1982 folgte ein weiterer Wechsel: von Ost-Berlin nach Washington, zu Zeiten des Kalten Krieges politisch wohl der größtmögliche. Von dort rief ihn der WDR nach Köln zurück, zuerst ab 1988 als Chefredakteur, 1995 wurde er zum Intendanten gewählt.
Dann also ab April 2007 das Ruhrgebiet, die eigentliche Heimat. „Ruhr.2010“ sollte die Europäische Kulturhauptstadt repräsentieren. Stellvertretend hatte diesen Titel für die 53 Städte, kreisfreie und kreisangehörige Gemeinden des Regionalverbandes Ruhr (RVR) Essen erhalten; damit wurde erstmals eine komplette Region berücksichtigt, an der der Regionalverband Ruhr, das Land Nordrhein-Westfalen, der Initiativkreis Ruhrgebiet und die Stadt Essen beteiligt waren. Geschäftsführer war neben Fritz Pleitgen auch Oliver Scheytt. In dem Projekt waren etwa 110 Mitarbeiter beschäftigt. Für Fritz Pleitgen, der beim WDR der Chef von fast 4000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gewesen war, hinsichtlich der Größenordnung ein Klacks. Dafür war die Herausforderung groß. Wiederum waren seine journalistischen, politischen und diplomatischen Fähigkeiten gefragt. Dazu gehörten – wie immer in solchen Zusammenhängen – auch symbolträchtige Handlungen. So wurden an allen Autobahnen in Richtung Ruhrgebiet Tafeln „Ruhrgebiet Kulturhauptstadt Europas 2010“ aufgestellt. Das erste Schild enthüllte Fritz Pleitgen gemeinsam mit dem damaligen NRW-Verkehrsminister Oliver Wittke aus Gelsenkirchen am 22. September 2008 an der A2-Autobahnraststätte Bottrop-Süd. Wirklich los mit RUHR.2010 ging es dann mit der offiziellen Eröffnung am 9. Januar 2010 auf dem Weltkulturerbe Zollverein durch Bundespräsident Horst Köhler. Und der Bochumer Barde Herbert Grönemeyer stellte die Hymne der Kulturhauptstadt „Komm zur Ruhr“ vor. Am gleichen Tag wird auch das Ruhr Museum auf Zollverein eröffnet, das in diesem Jahr also den zehnten Geburtstag feiert. Bei der Ruhr.2010 steigt die 10. „Extraschicht“ und unvergessen im Juli das „Still-Leben Ruhrschnellweg“. 31 Stunden lang bleibt die A40 für den Autoverkehr gesperrt, dient auf der circa 60 Kilometer Länge als Bühne der Alltagskultur und Radstrecke.

Nach solchen Highlights muss Fritz Pleitgen eine wahre Katastrophe in diesem Kulturhauptstadtjahr ausgerechnet in seiner Geburtsstadt verkraften: Die Love-Parade am 24. Juli unter dem Motto „The Art of Love“ endet nach einer Panik mit 21 Toten und über 500 Verletzten. Und obwohl die Ruhr.2010-Organisatoren die Veranstaltung weder finanziell noch organisatorisch unterstützt hatten, ging es nicht spurlos an Pleitgen vorüber: „Wir tragen an der Tragödie schwer.“ Im moralischen Sinne fühle er sich mitverantwortlich für das Unglück. Er fügte hinzu: „Wir dürfen nicht aufgeben. Wir müssen dieses Kulturhauptstadtjahr erfolgreich zu Ende bringen, immer im Bewusstsein, was am 24. Juli geschehen ist. Das ist unsere Verpflichtung.“ Die löste er für seine Heimatregion ein, blieb auch bis Ende 2011 Vorsitzender der Geschäftsführung der Ruhr.2010 GmbH.

Heute ist Fritz Pleitgen, der am 21. März 2020 sein 82. Lebensjahr vollendete, so fit wie eh und je. Und, was auffällt, ist, dass und wie er über seine Frau spricht, die ihm immer wieder geholfen und ihn unterstützt habe, vor allem auch bei schwierigen Entscheidungen und in kritischen Phasen. Als er Korrespondent in Moskau werden sollte, war sie junge Mutter. Moskau war 1969 eine Härteprüfung, erinnert sich Pleitgen heute: „Die Sowjetunion bot Westmenschen damals Lebens- und Arbeitsverhältnisse wie heute Nordkorea. Ich arbeitete unter Zensurbedingungen, ohne eigenen Kameramann. Unser nächster Supermarkt war 1 100 km entfernt und stand in Helsinki. Trotzdem hat meine Frau mich ermutigt, das Angebot anzunehmen, nach Moskau zu gehen. Unser Sohn Frederik war ein Jahr, als wir Moskau verließen. Heute ist er als senior international correspondent für CNN in Moskau stationiert. Frederik wohnt im Moskauer Westen am Kutusowski Propekt 7/4 im selben Haus wie wir damals, nur in einem anderen Eingang und in einer anderen Etage.“ Der Stolz des Vaters ist dem Ruhrgebietskind sicher.

Artikel von www.top-magazin.de/ruhr