Kultur

Musiktheater im Revier

„Il cappello di paglia di Firenze“ sorgt in dieser Spielzeit im Musiktheater im Revier für quirliges Leben auf der Bühne.


Der Florentiner Hut und der gute Geschmack

Musiktheater im Revier: Essen wie bei Muttern geben Thomas Kölsche und Stefanie Wronski in der MiR-Kantine aus

Essen wie bei Muttern geben Thomas Kölsche und Stefanie Wronski in der MiR-Kantine aus

Als „Der Florentiner Hut“ durch den Film mit Heinz Rühmann in Deutschland bekannt geworden, kommt die fröhliche Salonkomödie als Oper des italienischen Komponisten Nino Rota nun in Gelsenkirchen zu neuen Ehren. Und das Musiktheater im Revier präsentiert eine veritable Deutsche Erstaufführung: Nino Rotas komische Mini-Oper „Die Fahrschule“ – hier erfährt das Publikum endlich, wie sich Elena und Fadinard kennengelernt haben: zwischen Kupplung, Gas und Bremse. Wer sich ins Getümmel stürzen mag – gespielt wird „Der Florentiner Hut“ noch am 22. und 30. Dezember, 5. Januar sowie am 4. und 12. Februar 2017.

Auf der Bühne des Musiktheater im Revier ist Pause – Zeit für das Publikum, sich eine Erfrischung zu gönnen. Direkt hinter der imposanten Glasfassade, an der der Innenstadt zugewandten Seite, liegt die Gastronomie. Ein Treffpunkt für die Gäste, der im Vorderhaus absolut beliebt ist. Genauso, wie die dazugehörende Kantine des Musiktheaters. Eine Balletttänzerin mit zwei verschiedenfarbigen Hosenbeinen bestellt einen Joghurt mit Müsli, ein Bühnentechniker Pasta mit Rucola und Walnüssen, ein Mittfünfziger mit tiefblauem Jackett ein Schnitzel. „Mit Reis, nicht mit Pommes, bitte.“

Musiktheater im Revier: Frederike Notthoff kontrolliert die Zahlen – auch sie ist Teil des integrativen Teams

Frederike Notthoff kontrolliert die Zahlen – auch sie ist Teil des integrativen Teams

Es herrscht Hochbetrieb. Thomas Kölsche füllt die Teller und gibt sie seiner Kollegin im Service. Er lächelt über die Glastheke hinweg, bis der erste Ansturm vorbei ist. Anschließend geht der 45-Jährige durch die Seitentür in einen kleinen, warmen Nebenraum. Er lässt Wasser über Teller laufen, räumt sie in die Gastronomie-Spülmaschine ein, startet das Gerät. Kurze Zeit später: Aufräumen in der Küche. Hier sortiert der Gelsenkirchener, der als Kleinkind einen Schlaganfall erlitt und seitdem eine schwere Behinderung hat, die sauberen Kellen zurück an die Wand. Thomas Kölsche arbeitet für die AWO Service GmbH, die die Kantine des Musiktheaters mitten in Gelsenkirchen betreibt. Fünf Menschen mit und sechs ohne Behinderung sind in dem Integrationsunternehmen beschäftigt, das im Jahr 2012 gegründet wurde. Die Kantine hat von 8.30 Uhr bis 23 Uhr geöffnet und gibt neben vielen kleinen Speisen mittlerweile 80 bis 100 Hauptmahlzeiten pro Tag heraus. Carsten Wiegand, Betriebsleiter der Musiktheater-Kantine will hier eines: Einen Treffpunkt mit Qualität zu guten Preisen. Wie gut das läuft, kann Frederike Notthoff jeden Tag sehen. Die Bürokauffrau, die wegen ihrer körperlichen Einschränkungen nicht allzu schwer tragen kann, liest jeden Tag die Kasse aus und trägt die Daten in Tabellen ein. „Das ist so ein bisschen meine Leidenschaft“, sagt sie, während sie am Computer eine Zahlenkolonne herunterscrollt. Es funktioniert, denn die Qualität steht für Wiegand im Vordergrund. Kartoffelpüree wird frisch zubereitet und kommt nicht aus der Tüte, die Schnitzel werden direkt in der Küche paniert. „Wir wollen, so weit das geht, wie bei Muttern kochen“, sagt Carsten Wiegand mit einem Lachen. „Die Gäste finden das super. Stimmt’s?“, ruft er zu einem Tisch hinüber – und die Theaterleute nicken einmütig. Und nicht nur sie sind zufrieden: Inzwischen werden auch die Kantine in der Sparkasse Gelsenkirchen und im Wissenschaftspark gemeinsam von Menschen mit und ohne Behinderung bewirtschaftet.

Gemeinsam am Start für den guten Geschmack – in Gelsenkirchen liegt die Würze in der Integration

Musiktheater im Revier: Thomas Kölsche arbeitet vor und hinter den Kulissen in der MiR-Kantine – das integrative Projekt macht es möglich

Thomas Kölsche arbeitet vor und hinter den Kulissen in der MiR-Kantine – das integrative Projekt macht es möglich

Regelrecht Schule hat das Beispiel der integrativen Arbeit in Gelsenkirchen gemacht. Neben den AWO Services hat sich auch die Firma Werner & Co. Gewürze zu diesem Schritt entschieden – und ihn nicht bereut. Schon an der Eingangstür der Firma strömt den Besuchern der Duft von Kardamom entgegen, dazu mischt sich Pfefferstaub, der in der Nase kitzelt. „Wir selbst riechen das kaum noch“, lächelt Helmut Schulte, Inhaber und Geschäftsführer des Gelsenkirchener Traditionsunternehmens. Kein Wunder: Bis zu 30 Tonnen der verschiedensten Gewürze setzen die 30 Mitarbeiter jeden Tag um, mahlen Pfeffer, füllen Chili, Paprika und Kurkuma ab, bereiten Mischungen zum Grillen oder für die Wurstherstellung zu. Sebastian Vollrath, der heute für die Mühle eingeteilt ist, hebt einen Sack auf die Schulter und kippt weiße Pfefferkörner in einen Trichter. Der 33-Jährige arbeitet zügig und geschickt; dass ihm an beiden Händen jeweils vier Finger fehlen, fällt erst auf den zweiten Blick auf. Seit seiner Geburt hat Vollrath nur seine beiden Daumen. Dank lebenslanger Übung kann er mit ihnen und dem Rest seiner Hände aber ebenso viel leisten wie die Kollegen. Werner Gewürze hat seit 2010 eine Integrationsabteilung: Acht der 30 Mitarbeiter haben eine Behinderung. Sebastian Vollrath ist froh, hier eine Chance bekommen zu haben. Vor gut anderthalb Jahren bewarb er sich initiativ.

Musiktheater im Revier: André Wilbert war der erste Mitarbeiter mit Handicap bei Gewürze Werner in Gelsenkirchen. Inzwischen gehört er seit 15 Jahren fest zum Team dazu.

André Wilbert war der erste Mitarbeiter mit Handicap bei Gewürze Werner in Gelsenkirchen. Inzwischen gehört er seit 15 Jahren fest zum Team dazu.

„Ich bin kein Typ für einen Bürojob, ich brauche immer Bewegung“, sagt der Essener. Seine Ausbildung zum Kaufmann für Bürokommunikation hat er nicht abgeschlossen, stattdessen Umschulungen zum Fliesenleger, Maurer und Lageristen absolviert und als Bauhelfer gejobbt. Auf eine Festanstellung hoffte er aber lange vergeblich. „Die Chefs haben mir körperliche Arbeit einfach nicht zugetraut“, sagt er. Helmut Schulte dagegen ging die Sache pragmatisch an. „Ich habe ihm gesagt, dass er beweisen muss, dass er den Job machen kann“, erklärt der 61-jährige Inhaber von Werner Gewürze. „Es lief gut, und seitdem hat Bastian eine unbefristete Stelle.“ Für die Kunden hat die Tatsache, dass bei Werner Gewürze Menschen mit und ohne Behinderung zusammenarbeiten, noch nie eine Rolle gespielt. „Die schauen auf die Qualität, das ist das einzige, was für sie zählt“, sagt der Unternehmer. Ihm selbst ist das Konzept mittlerweile eine Herzensangelegenheit. Dabei hatte Schulte nie geplant, eine Integrationsabteilung zu gründen. „Das Arbeitsamt sprach mich an und fragte, ob ich nicht eine Stelle für einen Menschen mit Down-Syndrom hätte“, blickt der 61-Jährige zurück. „Ich sagte Ja – und dann stand ich zu meinem Wort.“ Dieser Mann der ersten Stunde ist André „Andi“ Wilbert. Schulte stellte ihn vor 15 Jahren ein, trotz anfänglichen Widerstands einiger anderer Mitarbeiter. Wilbert hat das Down-Syndrom und braucht deshalb länger als seine Kollegen, um Arbeitsaufträge zu verstehen und umzusetzen. Damals stieß das nicht bei allen auf Verständnis, aber Schulte ließ nicht mit sich reden: „Ich habe den Mitarbeitern gesagt, sie können sich an Andi gewöhnen oder sie können gehen.“ Heute gehört André Wilbert ganz selbstverständlich dazu und führt seine Aufgaben routiniert aus. Er ist zufrieden mit seinem Job, und das zählt. „Die Arbeit macht Spaß“, sagt er. „Mit anderen Worten: Es läuft.“

 

Artikel von www.top-magazin.de/ruhr