Kultur

Der Schatten der Avantgarde

Es sind seine Dschungelbilder, die Henri Rousseau bekannt gemacht haben. Und dennoch zählt der Maler nicht zur Avantgarde der Moderne – wie viele Künstler seiner Zeit bewegt er sich eher im Schatten der großen Namen von Paul Gauguin über Pablo Picasso bis Blinky Palermo. Verblüffende Verknüpfungen zwischen den arrivierten Namen und den weniger bekannten autodidaktischen Kreativen zeigt nun das Museum Folkwang auf.


Die Avantgarde der Moderne

„Der Schatten der Avantgarde“ holt Rousseau und die vergessenen Meister, so verspricht der Untertitel, ins Licht. Und zieht die Verbindungslinien zum Schaffen der Avantgarde – ausgeklügelt von den beiden Kuratoren Kasper König, bis 2012 Direktor des Kölner Museums Ludwig, und dem Kunstwissenschaftler Falk Wolf. Sie haben diese Ausstellung genau auf das Essener Folkwang zugeschnitten.


„Mit seinen Beständen ist es absolut repräsentativ für die 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts”, begründet Wolf.


Henri Rousseau – oder auch André Bauchant und seine Historienbilder, opulente Blumen-Motive der französischen Putzfrau Séraphine Louis, detailgenaue Zeichnungen des ehemaligen Sklaven Bill Traylor oder die Skulpturen des Recklinghäuser Bergmanns Erich Bödeker – insgesamt sind es Kleinst-Retrospektiven von 13 nicht-akademischen Künstlern der Moderne und ihrem Schaffen.

Das nächste Register der „Schatten der Avantgarde“ stellt diese einzelnen Schlüsselwerke aus Moderne und Gegenwart gegenüber. Sie kommen überwiegend aus dem Bestand des Museum Folkwang, werden ergänzt durch Leihgaben, zum Beispiel aus der Kunsthalle Hamburg. Paul Gauguin oder Paula Modersohn-Becker, Honoré Daumier, Fernand Léger und Pablo Picasso bis Blinky Palermo und Mike Kelley.

So findet der Betrachter „Bilder, die man kaum kennt“, die in der Ausstellung „absolut bekannten, praktisch Postkarten-Motiven“ begegnen, beschreibt Kurator Falk Wolf. Die Sicht auf beides im Zusammenhang schärfe den Blick für die Qualität der nicht-akademischen Künstler. „Sie malen frei, ohne sich in jedem Fall an der akademischen Praxis zu orientieren“, erklärt Wolf. Wie Séraphine Louis: Als Putzfrau begann sie, mit Haushaltslacken Möbel zu bemalen. Schuf dann ebenfalls mit diesen Lacken sechs riesige Blumenbilder. Sie alle sind bei der Ausstellung im Folkwang zu sehen.

Für die besondere Qualität der künstlerischen Autodidakten steht ein Name im Ruhrgebiet schon lange: Erich Bödeker. Von Hause aus Bergmann erkrankt er an Silikose und wird Ende der 1950er Jahre frühpensioniert – Auftakt seiner neuen Geschichte als Künstler. Weil Bödeker nun Zeit hat, baut er sich seine eigenen Gartenzwerge, denn die marktüblichen Standard-Modelle gefallen ihm nicht. Holz ist sein Werkstoff, verbunden mit Metall, später entdeckt er dazu Beton. Aus all dem formt Bödeker Tierskulpturen, er entwirft eine Bergmannskapelle und portraitierte die englische Königsfamilie.

Seine Arbeiten finden ihren Platz in deutschen Vorgärten – und ganz schnell auch in der Kunsthalle Recklinghausen. Ihr Leiter Thomas Grochowiak entdeckt Bödeker, stellt ihn aus und macht ihn berühmt. Der einstige Bergmann wird über die Grenzen seiner Heimatstadt hinaus bekannt: Das Kolumba-Museum des Erzbistums Köln baut eine Bödeker-Sammlung auf. Und auch im Museum Folkwang wird er wahrgenommen, gehört schon 1969 zu drei naiven Künstlern, denen das Essener Haus eine Ausstellung widmet.

Die Bezüge zwischen der „Avantgarde“ und ihren „Schatten“ macht das dritte Register der Ausstellung deutlich. Mit Mike Kelley und Hanne Darboven zeigt es Gegenwartskunst. 270 Tafeln von fast 2 Metern Höhe umfasst Darbovens „Hommage à Picasso“, 18 davon haben König und Wolf für das Folkwang Wolf ausgewählt, um eine weitergehende Reflexion des Themas anzudeuten. Denn gerade dieses Werk macht Bezüge anschaulich, erklärt Wolf. Ausgangspunkt für die Tafeln ist ein Kunstdruck nach Picassos Sitzender Frau in Türkischer Tracht in einem verzierten Rahmen, die von polnischen Kunsthandwerkern hergestellt wurden. Das Ornament ist dem Kleid der Frau auf dem Bild entlehnt, das Picasso selbst orientalischen Stoffen nachempfunden hatte. Darbovens erneute Umkehrung weist darauf hin, wie sehr Picasso selbst zum Allgemeingut wurde, bei dessen Werken sich andere bedienen können. Visuell erlebbare Konvergenz gibt es auch zwischen den Werken von Bill Traylor und Blinky Palermo. Beide haben eine Alltagswahrnehmung, die künstlerisch relevant wird: Traylor, der ehemalige Südstaaten-Sklave, beginnt mit 84 Jahren zu malen. Mit grafischer Reduktion und abstrakten Formen bildet er genau ab, was er gesehen hat. Ähnlich arbeitet Blinky Palermo – in den 1970er Jahren hat er als Ausgangspunkt für sein abstraktes Gemälde „Flipper“ die Seitenwand eines Spielautomaten verwendet.


Kasper König

Kasper König ist Ausstellungsmacher. Zahlreiche Ausstellungen, u. a. 1966 Claes Oldenburg und 1968 Andy Warhol im Moderna Museet Stockholm, 1981 Westkunst in den Kölner Messehallen und 1984 von hier aus in der Messe Düsseldorf. Mitinitiator der Skulptur Projekte Münster, die seit 1977 in zehnjährigem Rhythmus stattfinden. Nach Aufenthalt in New York und Lehrtätigkeit in Halifax, Kanada, wurde König 1985 auf den neu gegründeten Lehrstuhl Kunst und Öffentlichkeit an der Kunstakademie Düsseldorf berufen. Drei Jahre später wurde er Professor an der Städelschule Frankfurt, die er ab 1989 als Rektor leitete. Gründungsdirektor der dortigen Ausstellungshalle Portikus, 2000–2012 Direktor des Museum Ludwig in Köln sowie 2014 Kurator der Manifesta 10 in St. Petersburg.

Falk Wolf

Falk Wolf ist freier wissenschaftlicher Autor und Kurator. 1996–2003: Studium der Kunstgeschichte, Neueren deutschen Literatur und Philosophie in Bonn und Lxeicester, 2003: M. A. an der Universität Bonn mit einer Arbeit zur Theorie der englischen Gartentheorie im 18. Jahrhundert. 2013 Promotion zur Fachgeschichte der Kunstgeschichte mit medientheoretischer Perspektive an der Universität Basel. Er war freier Mitarbeiter von 1997 bis 2002 am Karl Ernst Osthaus-Museum der Stadt Hagen. 2005–2008 war er Stipendiat des Graduiertenkollegs Bild und Wissen im Nationalen Forschungsschwerpunkt »Bildkritik« eikones in Basel. 2008–2010 folgte ein wissenschaftliches Volontariat am Museum Ludwig, Köln. Seither Text- und Ausstellungsprojekte zu moderner und zeitgenössischer Kunst.

Info

„Der Schatten der Avantgarde – Rousseau und die vergessenen Meister“ läuft im Museum Folkwang vom 2. Oktober 2015 bis zum 10. Januar 2016. Wiederentdeckt werden 13 Künstler, die in vergangenen Jahrzehnten fast ausschließlich im Kontext von Naiver- oder Outsider-Kunst relevant waren: André Bauchant, Erich Bödeker, William Edmondson, Louis Michel Eilshemius, Morris Hirshfield, Séraphine Louis, Nikifor, Martín Ramírez, Henri Rousseau, Miroslav Tichý, Bill Traylor, Adalbert Trillhaase und Alfred Wallis.

Ihren Werkgruppen sind Schlüsselwerke aus Moderne und Gegenwartskunst von Honoré Daumier über Paul Gauguin, Fernand Léger und Pablo Picasso bis Blinky Palermo und Mike Kelley zur Seite gestellt. Die Ausstellung wird begleitet von einem breiten Veranstaltungs- und Vermittlungsprogramm.

Artikel von www.top-magazin.de/ruhr