Der chinesische Drache auf dem Vormarsch

China, eine der ältesten Zivilisationen und Hochkulturen der Welt, fasziniert und beunruhigt zunehmend die westliche Welt. Gerade einmal rund 40 Jahre ist es her, dass Deng Xiaoping nach dem Tode Maos die Macht übernahm. Seitdem ist der Aufbau der Wirtschaft zentrales Ziel der chinesischen Politik. Heute belegt China Platz zwei hinter den USA auf der Liste der größten Volkswirtschaften. Das Schwellenland verfügt über zahlreiche Bodenschätze und besitzt einen großen Teil der globalen Vorräte an seltenen Erden.

Digitalisierung und Fortschritt

Der Weg von der Mao-Uniform und dem Fahrrad zu Smartphone und digitalen Zahlungsmitteln ist in Windeseile vollzogen, der digitale Fortschritt gigantisch. Drei Unternehmen dominieren den chinesischen Alltag: Der Onlinekonzern Alibaba, der IT-Riese Baidu und der Internet-Konzern Tencent, der mit WeChat den in China meistverbreiteten Chat-Dienst betreibt. Was die Digitalisierung betrifft, hat China nicht nur Deutschland längst links überholt. Das zuvor rückständige Land zieht in rasender Geschwindigkeit an scheinbar fortschrittlichen Gesellschaften vorbei, um sich an die Spitze zu setzen. Die Konkurrenz aus Asien muss ernst genommen werden.

„Dem in nur vier Jahrzehnten realisierten Fortschritt muss man Respekt zollen“, sagt Guy Lin von der Deutsch-Chinesischen Gesellschaft Neuss DCGN. „China holt rasant auf, aber diese Geschwindigkeit sorgt in der westlichen Welt und ihren behäbigen Wirtschaftsnationen für Irritation. Vielleicht ist es einfacher in einem Land, das vor 40 Jahren quasi bei Null angefangen hat, als in einer sich kontinuierlich entwickelnden Gesellschaft wie der in der EU.“

Die neue Seidenstraße – ein geostrategischer Masterplan

Mit dem Bau der neuen Seidenstraße setzt China ein unübersehbares Zeichen. Das wohl größte Infrastruktur-Projekt in der Geschichte Chinas soll das Land stärker an Europa anbinden, die Wirtschaftsbeziehungen zu Mittel- und Osteuropa stärken und Investitionsmöglichkeiten erschließen. Dieser geostrategische Masterplan beinhaltet eine große Anzahl von Bauprojekten: Straßen, Eisenbahnstrecken, Kraftwerke, Pipelines und Häfen. Von Shenzen bis nach Duisburg reicht die Landverbindung.

Die Seiden-Seeroute führt durch den Suez-Kanal. Jedes Lastenschiff, das von dort den griechische Hafen Piräus anläuft, wird von der chinesischen Flagge begrüßt. Während der Schuldenkrise hat die EU Griechenland gezwungen, Assets zu verkaufen; die Chinesen machten das beste Angebot für den Mittelmeerhafen. Von dort bauen sie jetzt eine Güterzugtrasse nach Budapest. Aus Europa gab es kein Gegenangebot.

DCGN arbeitet am interkulturellen Verständnis

Indem China konsequent und erfolgreich seine Wirtschaft ausbaut, fordert es die westliche politische und wirtschaftliche Dominanz heraus. Um dieser Herausforderung zu begegnen, ist unter anderem interkulturelles Verständnis nötig. Die Deutsch-Chinesische Gesellschaft Neuss will dazu einen Beitrag leisten.

Den entscheidenden Impuls für einen Brückenschlag zwischen Neuss und dem aufstrebenden China gab der ehemalige Neusser Bürgermeister Herbert Napp 2004. „Global denken, lokal lenken“ war sein Gedanke. Auch in Neuss sollten die touristischen, kulturellen und vor allem wirtschaftlichen Kontakte zwischen beiden Ländern wachsen. Im Neusser Rathaus richtete er eine Anlaufstelle ein, von der Anfragen an die zuständigen Ämter weitergeleitet wurden. Für weniger offizielle Anliegen initiierte er die Gründung eines Vereins. Schnell fanden sich Interessierte aus vielen Bereichen des öffentlichen Lebens: Kommunalpolitiker, Unternehmer, Kaufleute, Handwerker, Journalisten, Banker, Anwälte, PR-Berater, Lehrer, Steuerberater und Kulturschaffende.

Ludger Baten, Chefreporter der Neuss Grevenbroicher Zeitung und privat häufig in China unterwegs, übernahm die Aufgabe des Vorstandsvorsitzenden. Zum weiteren Vorstand gehören Thomas Hommers und Guy Lin, der bereits in der Gründungsphase als Vertreter der chinesischen Seite tätig war.

Chinesen in Deutschland, Deutsche in China

Rund 90 Prozent der DCGN-Mitglieder sind Deutsche. Die meisten haben während einer Chinareise Interesse an dem Land entwickelt und versuchen, Kontakt zum Land und zur Kultur zu halten. Andere legen den Schwerpunkt auf Bildung, chinesische Kultur und die Sprache oder verfolgen wirtschaftliche Interessen.

„Wenn man diese Beweggründe auf die Chinesen überträgt, die in unserer Region leben, dann fallen Tourismus, Interesse an Kultur im weitesten Sinne, die Freizeitgestaltung weg“, zählt Ludger Baten auf. „Die Menschen sind hierher gekommen, um Geschäfte zu machen, zu arbeiten und sich hier eine Existenz aufzubauen. Es gibt für sie weniger Gründe, in einen solchen Verein einzutreten, als für die Deutschen.“
Auch die Sprachbarriere wird für Chinesen und Menschen chinesischer Abstammung zum Hindernis, erklärt Guy Lin: „Die meisten im Rhein-Kreis Neuss lebenden Chinesen engagieren sich innerhalb ihrer Community. In eigenen Netzwerken und Vereinen pflegen sie den Kontakt zu ihren Landsleuten. Anders als beispielsweise Türken leben viele Chinesen hier in der ersten Generation und etwas abgeschottet. Sie benötigen Zeit, um in Deutschland besser Fuß zu fassen.“ Aber umgekehrt ist es nicht anders: Für die Kinder deutscher Expats in China gibt es deutsche Schulen, und in zahlreichen Clubs und Vereinen bleibt die deutsche Community unter sich. Deutsche Auslandshandelskammern dienen als Plattform für die deutsch-chinesische Business-Community. Mit Standorten in Beijing, Shanghai und Guangzhou sowie in Taiwan und Hongkong unterstützen sie deutsche Unternehmen beim Markteintritt, der Suche nach Geschäftspartnern, bei Aus- und Fortbildung und Geschäftsveranstaltungen.

 

Fakten statt Fake News

Die Deutsch-Chinesische Gesellschaft hat sich zur Aufgabe gemacht, zur wechselseitigen Verständigung beizutragen und die Gemeinsamkeit von Chinesen und Deutschen zu fördern. Den in der Region lebenden Chinesen soll dabei ein möglichst realistisches Deutschlandbild vermittelt werden. „Deutschen ein realitätsnahes Chinabild zu zeigen, ist unter den zunehmenden Polarisierungen in der Welt, in dem Mächtedreieck USA, Russland, und China, nicht einfach. Es wird immer wichtiger genau hinzuhören, um zwischen Information und Desinformation zu unterscheiden. Das gilt für alle Seiten“, so Ludger Baten.
Für die Arbeit der Gesellschaft haben wirtschaftliche Aspekte eine hohe Priorität. Kooperationen auf dieser Ebene gelingen nur, wenn es ein Grundverständnis für die Kultur des Partners gibt.

Dazu werden fachkundige Referenten wie zum Beispiel Prof. Marcus Hernig und Stephan Scheuer eingeladen, die über das Land informieren. Prof. Hernig, Germanist, Sinologe und Historiker, lebt in China und lehrt an der Zhejiang-Universität. Scheuer ist Sachbuchautor und arbeitet als Journalist bei der Wirtschaftszeitung Handelsblatt. Fünf Jahre lang war er China-Korrespondent für die Deutsche Presse-Agentur und das Handelsblatt.

Kooperationen mit chinesischen Vereinen entwickeln sich nur zögerlich, daher beschränke sich die Arbeit eher darauf, den Deutschen die chinesische Seite zu zeigen; auch konnten Praktika für junge Deutsche in China vermittelt werden, so Guy Lin. „Bei unserer Arbeit nutzen wir die guten Kontakte zum Generalkonsulat der Volksrepublik China in Düsseldorf und zu Deutschen Botschaften in China.“

Das Jahr des Schweins

Bei der dritten Auflage des China-Tags am 9. Februar anlässlich des chinesischen Neujahrsfestes begrüßten die Mitglieder der DCGN und zahlreiche Gäste das „Jahr des Schweins“. In Kooperation mit der Volkshochschule Neuss gab es im Romaneum ein umfangreiches Kulturprogramm. Mit einem traditionellen Drachentanz begann das Abendprogramm. Nach den Begrüßungsreden von Bürgermeister Reiner Breuer und dem chinesischen Generalkonsul Feng Haiyang hielt Stephan Scheuer vom Handelsblatt den Festvortrag mit dem Titel „Der Masterplan – Chinas Weg zur Hightech-Weltherrschaft“.

Ins Reich der Mitte mit der DCGN

Die besten Eindrücke erhält man vor Ort. So organisierte die Deutsch-Chinesische Gesellschaft bereits drei Reisen nach China, die über Touristik hinaus gingen und möglichst authentische Impressionen vom modernen China vermitteln sollten.

Auf Initiative des ehemaligen Bürgermeisters Herbert Napp reiste 2005 eine erste Delegation nach China. In Ruin, einer Stadt südlich von Shanghai, pflanzte man einen Baum zum Zeichen der Freundschaft. Ein Erinnerungsstein weist noch heute auf die damalige Begegnung hin. Der Kontakt ist jedoch abgebrochen. Anlässlich der Olympischen Spiele 2010 in Beijing reiste ebenfalls eine Gruppe nach China.
Die dritte Reise führte die Teilnehmer im September 2016 nach Beijing, Qufo, Nanjing, Wuxi, Yiwu, Hangzhou und Shanghai. In Nanjing standen Besuche in einem Krankenhaus und im Hafen auf dem Programm. Der Hafen Nanjing unterhält Kontakte zum Neusser Hafen.

Von der Stadt Yiwu in der ostchinesischen Provinz Zhejiang ist im Westen wenig bekannt. Die Stadt hat zwei Millionen Einwohner und ist ein Drehpunkt der Weltwirtschaft: 35.000 Einzelhändler in nur einem gigantischen Komplex sind spezialisiert auf Billigprodukte. Yiwu ist der Supermarkt für Supermärkte.

Ein Besuch der neu eingerichteten Freihandelszone in Hangzhou gehörte ebenfalls zum Programm. Viele Begegnungen zwischen Deutschen und Chinesen machten diese wirtschaftspolitische Reise für alle Teilnehmer zu einem Erlebnis. „Wir haben erkannt, dass Neuss und der Rhein-Kreis in China eine Marke sind“, betont Baten. „Chinesen beschäftigen sich viel mehr mit deutscher Kultur und Politik als es umgekehrt der Fall ist. Alles was in Deutschland passiert, wird aufmerksam verfolgt. Wir sind in China die Nummer Eins. Die chinesische Bezeichnung für Deutschland heißt übersetzt ‚Tugendland‘, ist also positiv besetzt.“ Baten ist überzeugt davon, dass die Zukunft asiatisch dominiert sein wird. „Die nächsten Generationen in Europa sollten chinesisch lernen; sie werden in ihrem Berufsleben entweder in einem chinesischen Unternehmen arbeiten oder mit einem chinesischen Unternehmen Geschäfte machen.“ Im Berufsbildungszentrum an der Weingartstraße in Neuss gibt es eine Asienklasse. Deren Absolventen gehören mit ihren Chinakenntnissen noch zu einer Minderheit, werden aber sicher später davon profitieren.