Panamericana: Die Seidenstraße der Neuen Welt

Gegen die Panamericana erscheint selbst die legendäre Route 66 wie ein asphaltierter Trampelpfad durch die Wüste. Heutzutage kann die ganz Amerika verbindende Nord-Süd-Schnellstraße auch per Mietwagen oder -motorrad erobert werden – je nach Etappe und Anbieter sogar grenzüberschreitend.

„Das war kein Picknick, und der nächste Schritt war einfach nur organisiertes Chaos.“ Vermutlich noch verhalten beschönigend ist dieses Zitat eines anonymen Straßenbauers zu verstehen, der in den 1950ern an vorderster Front mit dabei war, als das bis heute größte Binnenprojekt der Neuen Welt seinen Anfang nahm. Zeitgemäß gut ausgebaute Streckenabschnitte gab es schon damals – undurchdringlichen Dschungel und Felsmassive, die nur mit Dynamit bezwungen werden konnten, allerdings auch. Am Ende triumphierte trotz aller Strapazen der Traum von einer wirtschaftlichen Lebensader mit logistisch verlässlichem Warenverkehr.

Heute verbindet die Seidenstraße Amerikas auf mehr als 25.000 Kilometern 14 Länder und durchschneidet dabei Dschungel, Wüste, Großstädte, Kordilleren und selbst die Anden. Von der Nord­spitze Alaskas bis zum Kap Hoorn reicht die klassische Pan­americana allerdings nicht: Der Pan American Highway mag zwar um den Alaska Highway und diverse halboffizielle Routen verlängert worden sein, doch die einzig wahre Panamericana beginnt am Südufer des Rio Grande im texanischen Laredo und erstreckt sich entlang der Westküste Mittelamerikas südwärts bis Valparaiso, Chile, um dort nach Osten auszubrechen und im argentinischen Buenos Aires den Atlantik zu begrüßen.

Der Monate lange Nord-Süd-Treck auf Rädern ist Dauerurlaubern und Aussteigern mit genügend Geldreserven für Logistik, Expeditions-Ausrüstung, mobilen Unterhalt – und rein statistisch – gelegentlichen „Überzeugungszahlungen“ vorbehalten.Erstrebenswerter wird die Gesamtroute, die auch von Spezial-­Reiseveranstaltern angeboten wird, dadurch nicht. Zeit, Aufwand und das große Ziel zwingen dann zu Oberflächlichkeit.

Bei der Panamericana verkörpert der Weg das Ziel. Und die Abzweigungen. Ebenso wie daheim die Autobahn, sollte die Panamericana als Mittel zum Zweck verstanden werden ehe die passende Ausfahrt erreicht ist. Nur Traumtänzer erwarten von einer von wirtschaftlichen Notwendigkeiten motivierten Lebens­ader eine durchgehend sporadisch befahrene Küstenstraße mit Meerblick, auch wenn es solche Etappen in jedem Land gibt.

Anstatt der grauen Schlange durch Industriegebiete und Vorstädte blind nach Norden oder Süden zu folgen, sollten die eigenen Interessen und Schwerpunkte klar definiert und dann die passende Strecke mitsamt Logistik geprüft werden. So werden „Wüstenfüchse“ etwa schnell erkennen, dass die nördlichste Etappe in Mexiko und die südlichste in Chile eben genau das bieten, klimatisch und infrastrukturell (Pannen, Versorgung) aber Welten zwischen beiden Regionen liegen. In puncto Vielfalt zwischen zeitgenössischer und indigener Kultur, Natur, Städten und Klimazonen mit entsprechenden Landschaften kann es keine Zone der Panamericana mit den Staaten Mittelamerikas aufnehmen. Mit Ausnahme von Hoch­gebirge und makelloser Wüste gibt es in den kleinen Staaten praktisch alles, zumal es echte „Road Dogs“ den Chinesen und Japanern auf Europa-Urlaub gleichtun können und jedes Land in zwei, drei Tagen bereisen können. Sofern die  zum Grenzübertritt notwendigen Formulare mitsamt etlicher Kopien beisammen sind und die Bargeldreserven für die Einreise stimmen!

Die Qualität der Straßen hat sich ebenso gebessert wie die all­gemeine Sicherheitssituation für Touristen, die mit Banden-­Rivalitäten und Drogenschmuggel kaum je unverschuldete Berührungspunkte haben. Einige Grundregeln und Strategien sollte man als europäischer Tourist dennoch beherzigen: immer Geduld mitbringen und freundlich bleiben, ein paar Brocken Spanisch parat haben, niemals Original-Dokumente aushändigen, keine dubiosen Situationen fotografieren, Sicherheits­nummer der Kreditkarte entfernen und Nachtfahrten vermeiden – im Zweifelsfall dem eigenen Bauchgefühl vertrauen und den Kopf eingeschaltet lassen. Also so wie fast überall auf der Welt.

Speziell Honduras gilt als Risiko-Land. Wer aber Nacht-und-­Nebeltouren durch die beiden Metropolen San Pedro Sula und Tegucigalpa meidet, wird ein gastfreundliches Land erleben mit verträumten Bergdörfern und den Ruinen gewaltiger Maya-­Städte wie Copán. Abenteurer mit begrenztem Budget können mit den Wasserfällen am Bergsee Yojoa, Regenwald-Lodges wie im Nationalpark Cerro Azul und gezielten Abstechern im Nachbarland Nicaragua ein ähnliches Natur- und Kulturprogramm erleben wie im deutlich besser erschlossenen Costa Rica und dabei zwei Drittel der Ausgaben einsparen. Im stark sozialistisch geprägten Nicaragua werden Europäer oft herzlich empfangen, sobald einen der Akzent als Nicht-Amerikaner entlarvt hat.

Weniger als 100 Kilometer hinter der Grenze lohnt sich inmitten der Savanne eine Abzweigung von der „Carretera Panamericana“ in Richtung Pazifik: Die von einem Vulkanausbruch verwüstete Kolonialstadt León Viejo (UNESCO-Weltkulturerbe) ist ebenso sehenswert wie das neu aufgebaute intellektuelle Zentrum León (deutsche Partnerstadt ist Hamburg) mit zahlreichen Museen, Bodegas und Straßencafés, in denen man kaum auf andere Touristen trifft. Bis zu den besonders bei Surfern beliebten Pazifik-Stränden sind es kaum 20 Kilometer Strecke – eine guteÜbernachtungsadresse.  Anstelle eines Besuches in der schmucklosen Haupt- und Retorten-Stadt Managua empfiehlt es sich auf die drittgrößte Stadt Nicaraguas, Cordoba, auszuweichen und bei trockenem Wetter Zeit für einen Besuch des aktiven Vulkans Masaya einzulegen. In der „Blauen Stunde“ reicht der Lichtschein des rauschenden Lava-Sees bis zum Kraterrand hinauf. Naturfreunde können eine Bootstour auf dem nahe gelegenen Nicaragua-See unternehmen, der mit seinen 400 Inseln als größtes Stillgewässer Mittelamerikas eher einem Binnenmeer gleicht, ehe südwärts auf dem „Highway 1“ innerhalb einer Autostunde die Grenze zu Costa Rica in Sicht kommt.

Fast schlagartig verwandelt sich trockenes Weideland in immergrüne Landschaften, die im Flachland von Regenwald und in Höhenregionen von Almen mitsamt Käse-Produktion bestimmt werden. Das Land der „Reichen Küste“ ist gleicher­maßen das höchstentwickelte, wohlhabendste und ökologisch progressivste Mittelamerikas – ein hoher Prozentsatz der Landfläche steht unter Naturschutz und Kriminalität ist abgesehen von wenigen Brennpunkten und Gelegenheits-Diebstahl die Ausnahme. Man leistet sich nicht einmal eine Armee. Ein gut ausgebautes Straßennetz von dessen Qualität manche Regionen in Deutschland nur träumen können, macht auch Überland-­Etappen mit dem Miet-Motorrad zu einem sicheren Vergnügen.

Knapp 200 Kilometer hinter der Grenze zweigt eine Serpentinen-Straße von der PanAm ab und schraubt sich hoch bis zum Nebelwald von Monteverde, der über Brücken-Pfade in den Baumkronen oder mit Zip-Line-Fahrten entdeckt werden kann, ehe die Fahrt entlang des Bergsees Arenal am gleichnamigen erloschenen Vulkan zum Wellness-Paradies La Fortuna ansteht. Nach einer Übernachtung und wohl verdienter Entspannung in den Heilquellen folgt man den Serpentinen in Richtung Hauptstadt San José – eventuell mit Stopp am Vulkankrater Poas und an einer der zahlreichen Kaffee-Plantagen – wo die „Carretera Interamericana“ weiter nach Süden führt. Ob nun eine Übernachtung in der lebendigen Metropole San José eingeplant wird oder doch erst einige Autostunden später im grenznahen Nationalpark Corcovado (für viele Kenner die schönste Region Costa Ricas), bleibt eine Frage von Geschmack  und Zeit. Regenwald und Natur satt gibt es auch unmittelbar vor den Toren von Panama City. Die Nebenarme des Panama-Kanals, die im Rahmen organisierter Bootstouren ab Gamboa ebenso erkundet werden können wie der Kanal selbst, bersten vor Leben: Begegnungen mit Tukanen, Harpien, verschiedenen Affen, Krokodilen und Kaimanen sind vom Boot aus deutlich wahrscheinlicher als auf Dschungelpfaden. Der Anblick lädt schon zum munteren Kratzen am Hinterkopf und Augenreiben ein: Sobald die Brücke über den Kanal und die Grüne Hölle im Rückspiegel verschwindet, rückt die Skyline des mittelamerikanischen Banken­zentrums Panama City ins Blickfeld. In der Hauptstadt befinden sich acht der zehn größten Hochhäuser Lateinamerikas, allein 22 Wolkenkratzer mit über 200 Metern Höhe haben Panama eine zum Kanal hinüber blinkende Skyline verschafft. Neben moderner Architektur sind auch historische Gebäude erhalten. Ob per Flugzeug oder Segelboot nach Süden oder nach Hause – Panama City ist notgedrungen der vorläufige Endpunkt einer jeden Route auf der PanAm. Der Highway 1 erstreckt sich zwar noch beinahe 300 Kilometer in Richtung Südosten, findet dann schlagartig sein Ende. Wer hier reist, macht sich tatsächlich als Drogenschmuggler verdächtig: Zwischen dem Isthmus von Darién, der kolumbianischen Grenze und zur nächsten Schnellstraße nach Medellín sagen sich auf mehr als 100 Kilometern tatsächlich nur Jaguar und Anakonda Gute Nacht. Über eine Erschließung streiten sich bis heute Umweltschützer, Politiker und sicher auch der eine oder andere korrupte Genosse mit Schmiergeld in den Taschen. Doch wenn die Seidenstraße der Neuen Welt tatsächlich ohne eine Lücke im Verlauf auskommen würde, wäre sie auch ein wenig zu perfekt für Lateinamerika.