1880 erhält Franz-Josef Gilgen, der Urgroßvater des heutigen Besitzers, einen Sack Roggenmehl und beginnt damit die Reise in eine Jahre währende Bäckerei-Erfolgsgeschichte. Gebacken und geknetet wurde damals noch ohne Strom, Elektrizität kam erst vierzig Jahre danach in den kleinen Ort. Vier Generationen später hat sich aus der urigen Backstube in Uckerath eine große Bäckerei mit 600 Angestellten und 43 Filialen entwickelt.
Der Traditionsbetrieb Gilgen ist eine Familiengeschichte, die nicht nur vom Beginn der Elektrisierung erzählt, sondern auch zwei Weltkriege überstanden hat und heute mehr floriert denn je. Dabei bewies wohl jeder Gilgen eigene geschäftstüchtige Ideen und Unternehmergeist: Urgroßvater Franz-Josef startete einst den Bäckereibetrieb und arbeitete fleißig bis ins hohe Alter, Großvater Wilhelm Gilgen rief die „Tortenkutsche“ ins Leben, mit der er Backwaren zu den Uckerather Familien fuhr und auch die umliegenden Dörfer belieferte. Dessen Sohn Josef hatte mit den Hinterlassenschaften des Krieges und einer völlig zerstörten Backstube zu kämpfen. Es hinderte ihn jedoch keineswegs daran, die Familientradition weiterzuführen. Im benachbarten Bäckereibetrieb arbeitete er mit und half aus. Er legte die Prüfung ab, führte mit Frau Marga das frühere Lebensmittelgeschäft seines Vaters weiter und eröffnete einen Tag nach der Hochzeit – 1948 – eine neue Bäckerei, zunächst jedoch ohne eigenen Backofen. Mit Einzug eines neuen Ofens Anfang der 50er Jahre begann das Geschäft aufzublühen. 1979 übernahm der Sohn von Josef, der heutige Besitzer Franz-Josef, mit 29 Jahren den Betrieb seiner Eltern und läutete mit dem neu eröffneten Café „Tortenkutsche“ eine neue Ära ein. Doch das Uckerather Verkehrsamt legte den Betrieb nur wenige Monate später lahm, indem es durch eine Baustelle die Zufahrt zum Parkplatz versperrte. Kein Problem, das sich nicht lösen ließe. Ein paar schlaflose Nächte später eröffnete Franz-Josef seine erste Filiale in Eitorf. Ab jetzt sind dem Unternehmergeist des Bäckermeisters keine Grenzen mehr gesetzt. Es folgen Filialeröffnungen weit über die Grenzen Hennefs hinaus, vom Westerwald bis an den Rand von Köln. Heute sind es 43 und damit ein Unternehmen, das nicht nur sonntags tausende von Menschen glücklich macht.
5.000 Kilogramm Mehl täglich
Hennef, Meysstraße 14. Mehrere LKW auf dem Firmengelände, die um 8.30 Uhr zurückkommen, dahinter das Verwaltungsgebäude und die angeschlossene Backstube. Vor dem Betreten ziehen wir uns selbstverständlich um: weißer Kittel, Mütze. Dann startet der Rundgang. Der erste Blick nach dem Betreten fällt auf ein zimmerhohes, schmales Regal, auf dem verschiedene Brotlaibe, allesamt vorne aufgeschnitten, liegen. Darunter eine Puddingschnecke, Berliner, Nussecke, Croissant, Plunderteilchen, Brötchen. „Das ist unser täglicher Qualitätscheck“, erklärt Firmeninhaber Franz-Josef Gilgen. Hier landet von jeder Backware ein Teil und wir kontrollieren es auf Beschaffenheit, Teigfarbe, Gewicht. So kann bei einem eventuellen Rückläufer geguckt werden, wo das Problem lag.“ Köstlich sieht das aus und mein Magen knurrt zum ersten Mal. Neben dem Regal geht es in die Küche, in der gerade kiloweise hausgemachter Kräuterquark angerührt und für die Filialen portioniert wird. Ihn gibt’s zum Frühstück oder auf der Frischkäsestange. Gegenüber im Kühlraum kommen täglich 400 bis 500 Kilogramm Gemüse an, Salatköpfe, Tomaten, Gurken. Außerdem 200 kg Wurstaufschnitt und 150 Kilogramm Käse. Gewaschen, geschnitten, gerieben, gewürfelt und portioniert wird es auf die Filialen
verteilt, damit dort Brötchen belegt werden können. Das regionale Mehl wird direkt in die Silos vor der Halle geliefert, drei Stück mit einem Fassungsvermögen von 40 Tonnen füllen sich pro Woche zwei Mal.
Alles ist möglich
Weiter geht es in die Konditorei, in der auf einem großen Edelstahltisch bereits die hausgemachten Böden für 60 Herrentorten auf ihre Weiterverarbeitung warten. Flüssige Schokolade – keine Fettglasur – duftet aus einem Behälter am Fenster. Wir laufen vorbei am Torten- und Sahnekühlhaus, in denen sich durch die große gläserne Kühlschranktür die frisch gemachten Frankfurter Kränze bestaunen lassen. Dahinter ein weiterer Raum, in dem eine junge Frau riesige Teigböden mit Sahne bestreicht, die Andreas Reiß, der Schokoladensommelier bei Gilgen’s, zu ein-meter-langen Biskuitrollen formt. Er ist der Mann für jegliche Anlässe und Möglichkeiten. Mit neun Jahren entdeckte Andreas Reiß seine Leidenschaft für Torten. Heute dekoriert, kreiert und plant er oder baut Schablonen für Schokoladengebilde. „Die Kunden haben häufig sehr phantasievolle Ideen oder zeigen mir Bilder aus dem Internet, wie ihre Torte aussehen soll. Das entfacht meine Kreativität und ich mache mich an die Arbeit“, schmunzelt der sympathische Konditor. Torten mit drei Stockwerken oder einer kompletten Spielesammlung drauf, sind für ihn kein Problem. Ebenso wie Rosenblätter aus Fondant, und auch den Eiffelturm hat er aus Schokolade nachgebaut.
Hinter der Konditoreiabteilung, an einem Ende der 2600 Quadratmeter großen Halle, befindet sich die Feinbäckerei. Dazu zählt alles, was weder Brotbäckerei noch Konditorei ist, also Puddingteilchen, Schnecken, Apfelriemchen, Laugengebäck, Croissant, Quarkbällchen, Schlingel (gedrehte Mürbeteigstangen). Es ist wohlig warm, riecht köstlich nach Teig, das Wasser läuft im Mund zusammen, wo man hinschaut. Ein wenig erinnert es mich an mein Lieblings-Weihnachtsbuch aus Kindertagen. Da gibt es viele Wichtel, die permanent fleißig arbeiten, um dem Weihnachtsmann zu helfen. Hier sind es die fleißigen Bäckermeister, Angestellten und Azubis, die überall kneten, Backbleche mit Ware beladen, sieden, zuckern, kontrollieren, versandfertig machen. Karneval steht vor der Tür und vor allem die Siedemaschine, die hunderte Quarkbällchen, Krapfen und Berliner durch das heiße Fett zieht, läuft ohne Unterlass. „Während der Karnevalszeit ist bei uns Ausnahmezustand“, erklärt der Chef, „die Feinbäckerei ist dann 24 Stunden besetzt, in zwei Schichten.“ Eine beginnt um ein Uhr nachts, die nächste am Morgen. Es wird 22 Stunden gebacken und gesiedet, dann ruht die Maschine zwei Stunden für Reinigung und Fettwechsel und startet erneut. Wahnsinn.
Regionalität und der frühe Vogel
Die normale Arbeitszeit eines Bäckers beginnt zwischen 2.00 Uhr und 4.00 Uhr morgens, eine Handvoll startet jedoch schon früher, um 23.00 Uhr. Bei regulärem Betrieb, das heißt weder Weihnachten noch Karneval, sind das am Abend ein Brotbäcker, zwei Ofenmänner und zwei Personen für den Versand. Ab vier Uhr in der Frühe wird ausgeliefert. 14 LKW stehen dafür täglich bereit, pro Tag machen sich zwischen 30.000 und 40.000 Brötchen auf die Reise.
Im Versand reihen sich meterlang und mannshoch rechteckige Körbe aneinander. Jede Filiale hat hier ihre eigene Position, ein Display in Deckenhöhe zeigt an, welche Ware und wieviel davon in die einzelne Filiale geliefert werden soll.
Aber wo sind sie eigentlich, die zehntausende von Brötchen? Nirgends Körbe mit den frischen Wecken, stattdessen hausgemachte Teigrohlinge, in etwa doppelt so groß wie ein Madeleine. „Brötchen brauchen viel Zeit zum Gehen“, erklärt mir Bäckermeister Gilgen. „Sie werden hier in der Backstube von uns immer einen Tag im Voraus hergestellt und lagern anschließend eine Nacht im Kühlhaus. Nachts um drei wird die Temperatur hochgefahren, damit der Teig besser aufgeht.“ Als hausgemachte Rohlinge erreichen sie die Filialen und werden dort erst fertig gebacken. Für die Rohstoffe legen die Gilgens großen Wert auf Regionalität. So kommt der Weizen beispielsweise aus der Eifel, Roggen wächst im Westerwald und Dinkel stammt vom Niederrhein. Die Michelbacher Mühle im Westerwald mahlt das Getreide. Ähnlich regional sieht es bei den Eiern und Wurstaufschnitt aus. Am nähesten dran sind Milch und Quark, sie stammen nämlich vom Wiersberger Milchhof in Hennef, nur sechs Kilometer von der Backstube entfernt.
Ein Duft von nach Hause kommen…
Den letzten riesigen Teil der Backstube betrete ich mit Frau und Herrn Gilgen am Ende: die Grobbäckerei. Die lichtdurchflutete Halle mit langen Fensterfronten an beiden Seiten versprüht eine warme, heimelige Atmosphäre. Es ist ein bisschen wie nach Hause kommen und duftet nach Frischgebackenem. Rechts reihenweise die typischen flachen Öfen, einige von ihnen mit Schamott-, also Steinplatte, die dem Brot das leckere Steinofen-Aroma verleihen. Weiter hinten eine riesige Teigschüssel, die aus drei Metern Höhe den fertigen Teig auf eine Platte kippt. Hier wird er von Bäckern sofort aufgefangen und zu den Brötchenrohlingen verarbeitet.
Der Teig fürs Brot wird nach dem Mischen per Hand „gewirkt“. „Wenn die Brotteige nur maschinell geknetet werden, schmecken sie einfach nicht so gut“, erklärt Unternehmerin Manuela Gilgen. Echtes Handwerk ist eben nicht einfach ersetzbar. Zwischen 4500 und 5000 Brote in ca. 15 verschiedenen Sorten laufen hier täglich durch die Öfen und die Hände der Bäcker.
Ein paar Relikte finden sich auch noch in der Brotabteilung: Kastenformen von ganz früher, schon recht dunkel gebacken, aber definitiv nostalgisch.
Natürlich – und das ist ein Punkt, der dennoch erschreckt – kommen von den Filialen auch wieder Backwaren zurück. Unverkauftes – Brote wie Brötchen, Plunderteile oder Torten. Aber auch hier hat die Familie Gilgen eine hervorragende Lösung gefunden, um den Kreislauf aufrechtzuerhalten. Mehrere Tafeln aus der Region kommen vorbei, um die Backwaren abzuholen. Was die Tafel nicht mitnehmen kann, das bekommt ein Landwirt aus der Umgebung. Er holt die alten Brote ab, schreddert sie und verfüttert sie an seine Tiere. Ware, die nicht geschreddert werden kann, wie zum Beispiel Torten, landen in der Biogasanlage. Großes Plus in puncto Nachhaltigkeit.
Manuela und Franz-Josef Gilgen sind eine Unternehmerfamilie mit langer Geschichte. Dabei ergänzt sich das Ehepaar perfekt: Frau Manuela kümmert sich um den Verkauf, die Verwaltung, die Einrichtung, Werbung und das Design der Filialen, Franz-Josef ist verantwortlich für Backstube und Verkauf.
Als nächstes Großprojekt steht der Abriss und Neubau des vorderen Teils der Halle an. Hier soll umstrukturiert werden, damit die Versandabteilung nach vorne geholt werden kann, die starke Expansion der Lkw-Flotte macht’s nötig. „In dieser Zeit werden wir hier etwas enger zusammenrücken müssen, für ca. zwei Jahre“, erklärt die Firmenchefin. Und wenn schon. Wer seit 140 Jahren so ausgezeichnet backt, der schultert auch das mit links. Nach der Führung gibt es einen Kaffee. Fairtrade. Auch hier setzt das warmherzige Ehepaar ein Zeichen, und das seit 2006. Aber bitte mit Sahne!